Anna Kardos, Aargauer Zeitung (24.09.2019)
Das Opernhaus Zürich, soeben in Berlin als bestes Opernhaus ausgezeichnet, eröffnet die Saison mit einem philosophischen Gruselkabinett.
Eine todkranke Unsterbliche, betörend bis zur Besinnungslosigkeit, schön sowieso und erst noch die beste Opernsängerin weit und breit. Eine perfekte Figur für die Opernbühne – zumindest auf dem Papier. Denn: Sie darzustellen ist ziemlich unmöglich, wenn man zufällig nicht die Allüre von Marlene Dietrich und die Stimme Anna Netrebkos hat.
Im Opernhaus Zürich sitzt Evelyn Herlitzius als Emilia Marty denn auch zunächst mit dem Rücken zum Publikum. Der akkurate Pagenschnitt – halb Anna Wintour, halb Mireille Mathieu – glänzt im Frühlingslicht, das durch die Birkenblätter vor dem Fenster in den Salon fällt. Gleissend, flirrend, zauberhaft (das grossartige Bühnenbild entwarf Regisseur Dmitri Tcherniakov gleich selber). Das taillierte Kostüm erinnert tatsächlich ein wenig Marlene Dietrich.
Was will diese Frau? Um diese Frage kreist die ganze Oper
Was will diese Frau? Eine simple Sache, nämlich «die Sache Makropulos» – so heisst auch gleich diese alles andere als simple Oper von Leoš Janácek – es ist seine achte von neun. Aber das Opernhaus Zürich ist bekannt für seine mutige Spielplangestaltung und wurde dafür vergangenes Wochenende mit dem internationalen «Oper! Award» als bestes Opernhaus ausgezeichnet (siehe dazu auch das Nachgefragt mit Intendant Andreas Homoki). Aber zurück zur «Sache Makropulos»: Emilia Marty hat das sogenannte Elixir für 300 Jahre Unsterblichkeit schon einmal geschluckt, als unfreiwillige Probandin.
Da war sie 16 und hiess Elina Makropulos. Ihr Vater war Leibarzt von Kaiser Rudolf II., für den er es erfinden musste. Das war vor 321 Jahren. Nun braucht Emilia Marty (so nennt sich die Frau mittlerweile unter anderem) das Elixir ein zweites Mal, um weiterleben zu können. Sie ist 337 Jahre alt und todkrank.
Das wird schon während der Ouvertüre deutlich, als Röntgenbilder und ein Befund samt Begriffen wie Metastase oder palliativ über die Bühne flimmern, während die Philharmonia Zürich gemeinsam mit dem tschechischen Dirigenten Jakub Hr?ša die Musik pochen und pulsieren lässt. Das ist kraftvoll, aber nie gewaltsam. Farbig, aber nie anbiedernd. Da meckern die Blechbläser karikaturistisch, da klappern die Kastagnetten, die einem durchaus spanisch vorkommen dürfen. Überhaupt bildet das Orchester an diesem Abend einen sinnlichen roten Faden, an dem man sich festhalten kann. Denn an vielem anderen gleitet man ab oder stolpert inmitten dieses philosophischen Gruselkabinetts, wo die Figuren um Emilia herumschwirren wie Motten um das Licht.
Dass sie dabei auch mal verbrennen, ja dafür kann sie nichts. Die Inszenierung von Dmitri Tcherniakov betont das, indem es die Mitmenschen ästhetisch-symmetrisch um Emilia herum gruppiert. Berühren verboten!
Versammelt sind da also der Ururururenkel Albert (mit Schönheit und Wärme in der Stimme: Sam Furness), der einstige Liebhaber (mit viel Sinn für Charakter und Karikatur: Guy de Mey), die Jungsopranistin Krista (die in der Zürcher Version ihrem Idol Emilia mit beeindruckender Klarheit und Kraft in der Stimme das Wasser reichen kann: Deniz Uzun). Dazu Ruben Drole als Theatermaschinist und Irène Friedli als Putzfrau, die ihre Nebenrollen mit genauso viel Herzblut wie Virtuosität geben.
Und inmitten von all dem: Emilia Marty. Evelyn Herlitzius singt sie mit Ausdruck und Grandezza, und dass sich beides im Lauf des Abends wenig verändert, liegt wohl weniger an der Sopranistin, als an der Partitur, die trotz der Farbigkeit in Sachen Intensität durchgehend 220 Volt hat. Denn: Was soll sich schon einschneidend ändern nach 337 Lebensjahren einer unfreiwillig Unsterblichen, sofern sie das Elixir abermals schluckt?
Leben um der puren Gewohnheit Willen
Ihre potenziellen 1000 Kinder und Kindeskinder interessieren Emilia genauso wenig wie ihre verflossenen Lieben. Ihren Körper bietet sie dar, wenn sie daraus Profit schlagen kann. Alles, was ihr lieb war, musste sie hinter sich lassen. Sie ist eine gewohnheitsmässig Lebende. Aber nach und nach erkennt die Untote, dass der Sinn des Lebens paradoxerweise unter anderem im Sterben liegt. Dass ihr Tod im Finale medial übertragen und von einem Publikum live verfolgt wird, ist ein Kniff der Regie, der nicht nötig wäre. Denn zu denken gibt der Abend auch so schon genug.