Anna Kardos, St. Galler Tagblatt (05.11.2019)
Das Oratorium «Belshazzar» des Barockkomponisten ist ein Spektakel dank Live-Video, grandiosen Requisiten und der tollen Sänger
Diese Mütter! Sie wissens doch am besten. Egal, ob es um das obligate Rüebli zum Zmittag und warme Socken geht ‑ oder um ethische Staatsführung und den rechten Glauben. Das muss auch der Babylonische Herrscher Belshazzar schmerzhaft erfahren. Hätte der auf seine Mutter gehört, läge er jetzt nicht leblos in seinem eigenen Blut – und seine Stadt nicht in Schutt und Asche.
Dieser Generationenkonflikt ist bei weitem nicht der einzige in Händels Oratorium «Belshazzar». Der Komponist hat ein geradezu explosives Bouquet der Konflikte geschnürt, welches Händelexperte Laurence Cummings am Dirigentenpult und das Orchestra La Scintilla regelrecht zum Knistern bringen. Pralle Bässe treffen da auf flirrende Oboen und auf perkussiv klingende Streicher. Wer hinter der Gattung Oratorium ein statisches Singspiel erwartet hatte, für den galt: Bitte anschnallen!
Es fliessen Wasser, Wein und Tränen
Zumal es auf der Handlungsebene ebenfalls hoch – oder besser: abgrundtief düster zu und her geht. Diese dreht sich um Unterdrückung und Befreiung, um Monotheismus und Polytheismus sowie um Wasser und Wein.
Beides fliesst reichlich auf der Bühne des Zürcher Opernhauses ‑ und auch einige Tränen. Regisseur Sebastian Baumgarten hat diese mithilfe von Barbara Steiner (Bühne) in ein Filmset verwandelt – die Opulenz gibts gratis dazu.
Da werden auf offener Szene Scheinwerfer und Requisiten hin und her geschoben. Der Blick in die Kulisse wird zugleich zum Blick hinter diese. Und aus dem Zusammenspiel der Medien setzt sich die Bibelerzählung um das sprichwörtlich gewordene «Mene Tekel» zusammen, das während eines dekadenten Gelages an der Wand von Belshazzars Palast erscheint.
Weil Georg Friedrich Händel seine Oratorien auf Englisch komponiert hat, und seine Da-Capo-Arien – wie ihr Name sagt – wiederholt werden, wird der Opernabend für einmal auch zu einem Abend, bei dem man fast immer versteht, was auf der Bühne gesungen wird.
Das ist auch dem Sängerensemble zuzurechnen. Angefangen mit dem Chor des Opernhauses, den man wohl noch nie so gut hat singen hören. Dann dem Tyrannen Belshazzar, der mit dem Schweizer Mauro Peter eine königliche Diktion und Stimme erhält – jedoch eine, bei der stets ein Hauch von Wärme mitschwingt. Sein Duett «Remember» gemeinsam mit Mutter Nitocris (Layla Claire) hat Hit-Potential. Georg Friedrich Händel konnte eben so richtig auf die Tube drücken. Und das Opernhaus Zürich kann es auch: Evan Hughes‘ Gobrias füllt den Saal mühelos mit seinem samtigen Bass. Da mag Altistin Tuva Semmingsen (Daniel) mit ihrem Stimmvolumen nicht ganz mithalten.
Aber da ist natürlich auch noch Jakub Józef Orliński. Um den 28-jährigen, polnischen Countertenor reissen sich aktuell die Medien – und die Klassikjurys. Sodass Orliński während den Proben zu Belshazzar gleich dreimal ins Ausland fliegen musste, um schnell mal einen Preis entgegen zu nehmen.
Wer ihn in Zürich als Perserkönig Cyrus hört, weiss warum. Nicht nur, dass Orliński die Koloraturen mit einer geradezu übermenschlichen Perfektion (vergleichbar mit jener von Cecilia Bartoli) in den Saal spicken lässt; nicht nur, dass sein Timbre perfekt ausgewogen ist oder sein Atem atemberaubend lang. Aber der Mann, der bis vor kurzem als Breakdancer ebenfalls Preise einheimste (die Schweiz am Wochenende berichtete), hat so viel Charisma, dass die 30 Meter Distanz zwischen der Bühne und dem Publikum augenblicklich auf Null schmilzt – da nützt auch alles angeschnallt sein von vorhin nichts mehr.