Martin Preisser, St. Galler Tagblatt (23.09.2019)
Das Theater St.Gallen zeigt Dvořáks «Rusalka» als Frau auf der Suche nach sich selbst. Am Samstag war Premiere.
Von Naturmystik ist in der Inszenierung von «Rusalka» wenig zu spüren. Regisseurin Vera Nemirova zeigt, in jedem Augenblick fesselnd, nicht in erster Linie den Gegensatz zwischen der Wassernixe und einer zum Mensch gewordenen Frau, sondern lädt den Stoff psychologisch auf, erzählt ihn als eindringliche Geschichte einer mutigen Selbstfindung, für welche die Heldin einen hohen Preis zahlt. Als kühle Schönheit wird Rusalka besungen, kühle Schönheiten bestimmen bei den Regieideen das Gesamtbild dieser Inszenierung: Dvořáks lyrisches Märchen wird ein modernes. Eine Frau in Zwischenwelten, auch zwischen Instinkt und Realität, auf der Suche nach sich selbst, eine Frau, die es wagt, der Liebe nachzugehen, auch wenn sie daran scheitert.
So startet «Rusalka» nicht irgendwo an einem Wasser, sondern in einem Ballettprobensaal. Ein toller Einfall zu Beginn, als Rusalka ihre Meerjungfrauflosse ablegt und nur mühsam auf beiden Beinen stehen lernt, mit einem blau getapten Fuss: Gehversuche einer Frau, ihrer Identität auf der Spur.
Eine Rusalka mit vielen Facetten
Rusalka muss vieles können: Singen, stumm sein, laufen lernen, lieben und scheitern, nirgendwo daheim zwischen Leben und Sterben, einsam in der Welt der Nixen wie in der Partywelt der Menschen. Diese vielen von der Regie konturiert herausgearbeiteten Facetten zeigt Sofia Soloviy als Rusalka famos. Ihre Stimme betört, ihre Bühnenpräsenz fesselt. Das ist Dvořák gesungen mit einer überragenden Selbstverständlichkeit und Intensität.
Einer dieser kraftvoll durchgestylten modernen Tenöre ist Kyongho Kim als Prinz, der stimmlich richtig auftrumpft und schauspielerisch überzeugt. Er wird bei seinem ersten Auftritt am Flügel gezeigt, mit viel Notenpapier, auf der Suche nach Inspiration, auf der Suche vielleicht auch nach der Frau als Muse. Rusalka wird in einem späteren Bild unter einem Netz auf dem Flügel liegend den Prinzen mit dem Todeskuss erlösen, ohne selbst erlöst zu sein.
Eine warme, ruhige und sängerisch einnehmende Ausstrahlung hat Marcell Bakonyi als Wassermann, rund und sonor auch er zwischen Natur- und Menschenwelt wechselnd.
Rusalka in der Menschenwelt: Die Regie geizt da nicht mit erotischen Andeutungen und kecken Spielereien und peppt den Stoff ein wenig Richtung Spassgesellschaft auf. Sehr überzeugend spielend passt da Alžběta Vomáčková als verführerische Fürstin und Femme fatale in die Szenerie, klar, direkt und strahlend in ihrer stimmlichen Ausstrahlung.
Vom Ballettsaal über eine Cocktailbar bis zum leeren Raum mit Laterne bleibt das Bühnenbild bewusst schlicht (Youlian Tabakov) und bietet Raum für die psychologischen Konstellationen. Den Reichtum der Musik loten alle Akteure intensiv aus und werden dabei von einem konzentriert disponierten Sinfonieorchester St.Gallen unterstützt. Dirigent Modestas Pitrenas gibt der Musik eine starke emotionale Linie, die nie abbricht und das Bühnengeschehen intensiv mitträgt.
In der Zwischenwelt gefangen: Der Regisseurin gelingt da ein schöner Kunstgriff, indem sie die Bühne im dritten Akt spiegelverkehrt zeigt. Der Chor des Theaters St.Gallen sitzt dann hinten und gibt das Publikum. Und schaut einer Frau zu, die gewagt hat, um zu scheitern. Rusalka exponiert sich in dieser St.Galler Inszenierung als mutige Frau und gewinnt in der Rollenausdeutung durch die konsequent gespielte Fragilität an besonderer Kraft. Für die leichteren, komödiantischen Elemente sorgen die tänzerisch eingesetzten Waldfeen, aber auch das Personal an der Bar (Jennifer Panara, Riccardo Botta).
Ein besonderes Kränzchen muss man nochmals Alžběta Vomáčková winden. Neben ihrer Rolle als Fürstin lieh sie Nora Sourouzian ihre Stimme, die wegen einer Halsentzündung nur stumm, allerdings dennoch sehr präsent die Hexe Ježibaba spielte. Sängerinnen, die sich aushelfen: So gelingen auch anspruchsvolle Premieren, und Unvorhergesehenes wird professionell gemeistert!