Martina Wohlthat, Neue Zürcher Zeitung (16.09.2019)
Aus heutiger Sicht frappiert Luigi Nonos «Al gran sole carico d’amore» vor allem aufgrund der Rollenverteilung unter den Geschlechtern
Sie suchen mit glühenden Herzen das Leben – und finden Ungerechtigkeit. So ergeht es dem Arbeitersohn Pawel, der Kämpferin Tania und anderen Figuren in Luigi Nonos Revolutionsoper «Al gran sole carico d’amore» (Unter der grossen Sonne von Liebe beladen). Mit dem als Auftragswerk der Mailänder Scala in den frühen siebziger Jahren entstandenen Bühnenwerk schuf der italienische Komponist ein bedeutendes Werk des zeitgenössischen Musiktheaters. Als Saisonauftakt kommt das als «szenische Aktion» bezeichnete Stück am Theater Basel nun zu einer späten Schweizer Erstaufführung. Warum so spät, mag man sich fragen? Revolutionsopern haben es im heutigen Musikleben nicht eben leicht. Die Zurückhaltung mag aber auch dadurch begründet sein, dass das Stück nicht opernhaft theatralisch, sondern in kunstvoller Aufsplitterung Ereignisse der Geschichte zur Sprache bringt.
«Die gute Louise»
Das Libretto besteht aus einer vom Komponisten erstellten Collage von Textzitaten von Marx, Brecht und Che Guevara. Der Bogen spannt sich von der Unterwerfung der Pariser Kommune 1871 über die russische Revolution oder die Arbeiterstreiks in der Turiner Autoindustrie bis hin zum Vietnamkrieg. Ausschnitte aus Sprechdramen stehen neben historischen Dokumenten, politische Lieder neben lyrischen Fragmenten. Gesellschaftliche Umbrüche mit ihren gescheiterten Hoffnungen und Niederlagen geben dem Stück die Richtung, aber der revolutionäre Impetus wird immer wieder auf eine Haltung des Fragens und der Reflexion hin geöffnet. Die Beurteilung des Geschehens bleibt weitgehend der persönlichen Perspektive des Zuschauers überlassen.
Aus heutiger Sicht frappiert das Stück vor allem in einer Hinsicht: der Rollenverteilung unter den Geschlechtern. Den Handlungsimpuls überträgt Nono auf die Frauen. Die Grundidee des Stücks, so der Komponist, sei die Kontinuität der weiblichen Präsenz im Leben, im Kampf, in der Liebe. Die Revolution ist bei Nono weiblich. Aktivistinnen wie der französischen Lehrerin Louise Michel oder der Guerillakämpferin Tania Bunke setzt der Komponist ein musikalisches Denkmal. Die zentrale Frage wird von Tania Bunke (Rainelle Krause) gleich zu Beginn als individueller Einspruch gegen das Vergessen gestellt: «Wird mein Name eines Tages nichts sein?»
Kurz darauf verliert die Kämpferin in einem feindlichen Hinterhalt ihr Leben. Rettung bietet die Musik, die den Frauen über den Tod hinaus eine oder gleich mehrere Stimmen gibt. Die Verteilung der Gesangslinien auf mehrere Sängerinnen unterstreicht den kollektiven Gestus. Dies macht die weiblichen Figuren des Widerstands nicht bloss zu mythischen Stimmen der Schönheit und der Hoffnung, sondern reduziert auch die im ersten Teil kurz auftauchenden Politiker Adolphe Thiers und Bismarck zu Karikaturen und Randfiguren. Im ersten Teil geht es um die historischen Ereignisse der Pariser Kommune von 1871. Die Kommunarden, die sich in Paris für eine Verbesserung der Lebensbedingungen des Volks einsetzen, werden getötet oder in Straflager gesteckt. Unter ihnen die Lehrerin Louise Michel, die von der Pariser Bevölkerung die Übernamen «Die rote Wölfin» und «Die gute Louise» erhält. Im Mittelpunkt des zweiten Teils stehen die Mutter aus Gorkis gleichnamigem Roman und Deola, die Geliebte eines Arbeiters aus der Lyrik von Cesare Pavese.
Geschichte als Komposthaufen
Die Bühne von Janina Audick liefert für dieses komplexe Geschehen einen Raum, der anfänglich wie eine surreale Landschaft wirkt. Die riesige, halb in den Boden versunkene Frauenfigur verströmt die gleiche Melancholie wie der Gesang. Die im Titel erwähnte grosse Sonne wird durch einen Metallbogen mit Lichtern angedeutet. Ein Tonbandgerät ist halb von Farn überwuchert, als müssten die verschütteten Lebenszeugnisse aus dem Urwald geborgen werden. An der Rückwand steht der Satz «Es wird wieder Leben geben». Der Lauf der Geschichte erscheint hier als eine Art Komposthaufen, in dem das Leben sich immer wieder erneuert. Dies ist ein vielversprechender Ansatz für ein Werk, das eher der antiken Tragödie als einer klassischen Operndramaturgie folgt. Nono selbst betrachtete die abstrahierende szenische Lösung der Mailänder Uraufführung von 1975 zunächst als verbindlich, bevor in weiteren Aufführungen andere Sichtweisen entstanden.
Die Basler Inszenierung von Sebastian Baumgarten ist ein farbiges Plädoyer für Geschichtlichkeit – unter die grossen Tableaus mischt sich zuweilen aber auch ein Zuviel an kleinteiliger Handlung. Dies führt zur Verdoppelung des Offensichtlichen. In den Chorszenen entsteht Revolutionskitsch, als wollte man das sperrige Stück opernhaft begradigen. So viele emporgereckte Fäuste, so viel Realismus hat Nonos «Azione scenica» dann doch nicht verdient. Allein die Videobilder von Chris Kondek sind stark genug, um die Zusammenhänge zu erschliessen. Hier frisst die Revolution ihre Kinder, hier tun sich Fabrikhallen auf wie aus einem Film von Sergei Eisenstein. Die Zeitgebundenheit des Stoffs wird am Ende in gutgemeinten Slogans für uns Heutige fortgeschrieben. Ob das der Sinn einer Vergegenwärtigung ist? Dabei enthält die Musik bereits ein starkes Plädoyer an die Mitmenschlichkeit.
Da ist zum einen die Unterdrückungsmaschine, die sich in dichten Klangwolken stampfend in Gang setzt und sich szenisch in Form einer Metallplatte bedrohlich über die Akteure senkt; am Schluss tragen sie das aufleuchtende Wort «Sieg» förmlich auf ihren Schultern, werden davon in die Knie gezwungen. Da sind zum anderen die einzelnen Gesangsstimmen, oft unbegleitet oder nur von wenigen Instrumenten des grossen Orchesters gestützt, die sich mit schier atemberaubender Fragilität entfalten. Einzigartig ist die Figur der Mutter, die der wunderbaren Altstimme der Sängerin Noa Frenkel anvertraut ist. Durch sie kommt ein Moment der Ruhe und Stärke in den zweiten Teil des Abends, entsteht ein musikalischer Flow, der einen in seinen Bann zieht. Der Dirigent Jonathan Stockhammer vollbringt mit dem Sinfonieorchester Basel das Wunder, einen grossen Apparat differenziert tönen zu lassen. Der Chor des Theaters Basel zeigt als tragendes Kollektiv eine Glanzleistung.
Voll Intensität sind die Vokallinien der Solistinnen in den hohen und höchsten Stimmregionen. Dies ergibt zusammen mit dem markanten Einsatz der Blechbläser einen energievoll aufgeladenen Klang. Gesang, Bläserklang, Mehrchörigkeit – immer schimmert das Erbe der italienischen Musik durch diese Trümmerlandschaft hindurch, erleuchtet die Musik von innen heraus, verleiht ihr Humanität und zuweilen eine brennende Dringlichkeit. Ein profilierter Spielzeitbeginn fürwahr. Die Schönheit steht der Revolution nicht entgegen – dies beansprucht Nono nicht nur für die Frauen, sondern auch für seine Musik.