Ein Bilderbuch der Abgründe

Herbert Büttiker, Der Landbote (27.09.2005)

Ledi Macbet Mzenskowo ujesda, 25.09.2005, Zürich

«Katerina Ismailowa» also und nicht die provokantere Urfassung. Und? Die Zürcher Einstudierung steht für viele Qualitäten der grossen Schostakowitsch-Oper ein, musikalisch und szenisch.

Die Wahl der späteren Überarbeitung der «Lady Macbeth von Mzensk» hat jedenfalls den Vorteil des unverfänglicheren Titels. Denn mit Shakespeares Lady ist die Katerina Ismailowa der Oper ja nur bedingt gleichzusetzen. Nicht den Glanz einer Krone sucht die Kaufmannsfrau, sondern den Ausbruch aus bedrückenden Verhältnissen, nicht die Kriminalpsychologie des Ehepaars bestimmt das Geschehen, sondern der Ehebruch mit dem Gehilfen Sergej. Kein legitimer Herrscher, sondern der tyrannische Schwiegervater, der ihr Schlafzimmer umschleicht, ist das erste Opfer. Auch die Tötung ihres Mannes Sinowi folgt keinem kaltblütigen Plan, sondern aus dem Moment heraus, als er sie mit dem Liebhaber überrascht. Eher Opfer als Täterin ist sie schliesslich auch bei ihrem dritten Mord, den sie auf dem Weg in die Strafkolonie begeht, wo sich Sergej einer Jüngeren zuwendet und sie, herausgefordert und verzweifelt, die Rivalin in den Fluss stösst und hinterherspringt.

Die Frau als Opfer in der zaristischen beziehungsweise in einer patriarchalischen Gesellschaft – dieser Blickwinkel ist auch der der Musik: im expressiven Gestus, mit dem sie sich in die Nöte der Protagonistin einfühlt, im Spott, den sie über Polizei, Pope und Haustyrann ausgiesst, in der Unverblümtheit, mit der sie den Zynismus von Sergejs Leidenschaft entlarvt, und auch mit der Art, wie sie die alte russische Oper für ein schillerndes Wechselspiel von Satire und Tragödie aufgreift und verfremdet.

Ein solches Leben

Im letzten Bild gibt der Gesang des alten Zwangsarbeiters – Pavel Daniluk mit tragendem Bass – und mit ihm der Chor, der die zahlreichen Herausforderungen dieses Werks imponierend meistert, dem Stück die definitive Richtung. Es ist die der umfassenden Klage: «Wird denn für ein solches Leben geboren der Mensch?», fragt er, während die Häftlinge weiterziehen. Aber davor ist Raum für ein buntes Spektrum unterschiedlichster Figuren, die in der Zürcher Inszenierung – die erste seit der «Lady Macbeth» von 1936 – alle ihre markanten Auftritt haben. Dazu gehören die komisch derben Nebenfiguren wie der Pope (Reinhard Mayr), das Bäuerlein (Martin Zysset) oder der Polizeichef (Valeriy Murga), und die Hauptfiguren, die durchaus auch ihre lächerliche Seite haben. Sinowi, den Reinaldo Macias mit ausladender Stimme nobel gibt, kommt zum Triller der Bassklarinette nicht ohne Komik zu Tode. Boris hat in Alfred Muffs Poltergesang, in dem immer auch lerchenauische Jovialität mitklingt, ohenhin mehr komisches als dramatisches Format., und Sergej besitzt mit Viktor Lutsiuks Tenor zwar das Appassionato der grossen Liebhaber-Tenöre, aber in pathetischen Momenten wird er vom Orchester spielerisch konterkariert, und gross ist die Fallhöhe von der behaupteten Empfindsamkeit zum buffomässigen Feilschen um Liebesgunst.

Die Mörderin als Heldin

Aus aller irrlichternden Komik herausgehalten, mit starken, eindeutigen Gefühlen ist Katerina die einzige wirklich «heldische» Figur der Oper. Die Sopranistin Solveig Kringelborn gibt ihr alle Facetten, schmerzliche Emotionalität, jugendlich-innige Piano-Kantilenen, Ausbrüche mit grosser Stimme und schlichte Echtheit in Spiel und Gesang insgesamt.
Tragödie, Satire und episches Volksdrama: Den gemeinsamen Nenner für das stilistische Konglomerat der acht Bilder findet das Inszenierungsteam (Klaus Michael Grüber, Inszenierung, Francis Biras, Bühnenbild, Eva Dessecker, Kostüme) auf der Zürcher Bühne in der Ästhetik des Bilderbuchs. Vor unverstellten malerischen Flächen zeichnet sich das Geschehen in klaren Konturen ab, akzentuiert durch die fein abgestimmte Farbigkeit der Kostüme und wenigen Requisiten. Lokalkolorit ist mit Zurückhaltung eingesetzt, und die Zwiebeltürme hängen verkehrt herum vom Schnürboden herunter: Die folkloristische Konvention der russischen Oper kommt zu ihrem Recht und ist doch ausgehebelt.
Dem «Naiven» ganz nah ist die Genreszene des Hochzeitsbildes, kurz ist der ästhetische Weg hin zur Überzeichnung der Polizeisatire und kurz zum expressionistischen Stimmungsbild der Schlussszene. Realistisch werden die Liebes- und Mordszenen ausgespielt, wobei das Drastische dem Komischen nahe bleibt beziehungsweise beides ineinander übergeht – eine Gratwanderung, die der Musik abgelauscht ist und die Kunst dieser Inszenierung ausmacht, die vielleicht auf den ersten Blick als unspektakulär erscheint, aber beim zweiten umso mehr als Feinarbeit von grossem Reiz zu würdigen ist.

Furios und sorgfältig

Ähnliches lässt sich für den musikalischen Aspekt der Aufführung feststellen. Vladimir Fedoseyev sucht in dieser Musik den grossen symphonischen Zug: Die Wahl der weniger grell instrumentierten Fassung hat damit zu tun. Momente pauschaler Betriebsamkeit, die in Schostakowitschs Motorik lauern, werden mit flexiblem Spiel aufgefangen. Immer wieder glänzt das Orchester mit geradezu sportlichen Höchstleistungen in allen Registern, aber auch mit Vehemenz und lyrischen Schönheiten. Furios stürzt es sich in die burlesken Intermezzi, sorgfältig werden solistisch konzertierende Passagen. Dabei gewannen an der Premiere Motorik und opulente Dynamik im Verlaufe der drei Akte zunehmend an Prägnanz und Eindrücklichkeit, und in der Summe war es ein grosser Abend.