Mathias Balzer, Aargauer Zeitung (16.09.2019)
Das Theater Basel hat die Saison mit einer Oper von Luigi Nono eröffnet. Eine geballte Ladung Revolutions- und Frauengeschichte.
Luigi Nono war ein Künstler mit Sendungsbewusstsein. Der italienische Avantgarde-Komponist hat sein Werk in den Dienst des Klassenkampfs gestellt. Die Uraufführung seiner Oper «Al gran sole carico d’amore» (Unter der Sonne von Liebe beladen) geriet an der Mailänder Scala zum Skandal. Die Christdemokraten wetterten gegen die Untergrabung ihres Kulturtempels durch den bekennenden Kommunisten. Das war 1975. Terroranschläge der radikalen Linken und Rechten erschütterten das Bel Paese. Die italienischen Eliten sahen sich durch die Kommunisten existenziell bedroht.
Für die Schweizer Erstaufführung der selten gespielten Oper kooperiert das Theater Basel mit dem Festival Zeiträume. Regie führt Sebastian Baumgarten. In einem Interview mit dieser Zeitung nannte er dieses Stück über gescheiterte Aufstände eine Geisterbeschwörung. Luigi Nono sah sie als Zeichen «der Kontinuität weiblicher Präsenz im Leben». Die Texte jedoch stammen grösstenteils von männlichen Vertretern des Marxismus, wie Marx selbst, Antonio Gramsci, Fidel Castro, Bertolt Brecht oder Cesare Pavese.
Zwischen Gesamtkunstwerk und Revolutionsfolklore
Nono hat diese Textfragmente zu einer monumentalen Collage verwoben. Rund ein Dutzend Solisten, der grosse Chor und der Kammerchor des Theaters stehen in Basel auf der Bühne. Unter der musikalischen Leitung von Jonathan Stockhammer wird diese geballte Stimm-Macht vom Basler Sinfonieorchester begleitet.
Für den Komponisten stand bei der Entstehung des Werks ausser Frage, ob mit Neuer Musik Klassenkampf geführt werden könne. Die revolutionäre Avantgarde vertraute darauf, dass diese befreite Musik für befreite Menschen irgendwann von diesen verstanden wird.
Mit dieser Gebrauchsanweisung im Kopf beschleichen einen zu Beginn jedoch Zweifel, ob diese von Trommeln begleiteten, langgezogenen Hochfrequenz-Töne im Publikum revolutionäres Potenzial wecken können. Aber siehe, oder besser, höre da: Das Basler Ensemble bringt diese komplexe Partitur zum Fliegen und erzeugt mit ihr eine hypnotische Klangkulisse, die durch den ganzen Abend trägt.
Sie ist der Soundtrack für eine opulente Geschichtslektion, die sich entlang gescheiterter Aufstände abwickelt: die Pariser Kommune von 1871, die russische Revolution von 1905, der Sturm auf die Moncada-Kaserne 1952 auf Kuba, die Arbeiterkämpfe im Turin der Nachkriegszeit. Beleuchtet werden diese Ereignisse aus Sicht von Frauenfiguren: Louise Michel, die Pariser Anarchistin, Tamara «Tania« Bunke, die deutsche Weggefährtin von Che Guevara, Haydée Santamaría, die kubanische Revolutionärin, Deola, die Prostituierte aus Cesare Paveses Werk und die um ihren Sohn trauernde Mutterfigur von Maxim Gorki.
Das ist eine geballte Ladung an Revolutions- und Frauengeschichte, von der Bühnenbildnerin Janina Audick und dem Videokünstler Chris Kondek bildgewaltig illustriert. Historische Aufnahmen, animierte Filmsequenzen, Informationstexte in Propaganda-Manier lassen diesen Abend irgendwo zwischen Gesamtkunstwerk und Schulstunde oszillieren.
Im ersten Teil erinnern aktuelle Aufnahmen aus Hongkong oder Paris daran, dass der Aufstand der Massen mittlerweile das Hintergrundrauschen der Gegenwart ist. Verknüpft mit den Bildern der Revolutionsgeschichte und der Musik erreicht die Inszenierung damit einen faszinierenden Sog.
Nach dem Pausengetränk leider weniger. Die gleichtönende Lektion dauert fort, wir Schüler haben jedoch längst begriffen: Der Kampf um die Umverteilung der Mittel hat Geschichte und bleibt aktuell.
Wenn dann die herrschende Klasse in Form einer riesigen, etwas plumpen Menschengestalt auf die Unterdrückten niederfährt, ist Zeit für mentale Abschweifung und die Frage, die wie ein Elefant im Raum steht: Wohnen wir hier, trotz aller Virtuosität und einem grandiosen Ensemble, nicht einer Art Avantgarde- und Revolutionsfolklore bei? Nämlich der Saisoneröffnung in einer Stadt, die sich doch längst darüber geeinigt hat, dass die Superreichen nicht um ihr Vermögen gebracht werden sollen – und im Gegenzug Theater und Kunst mitfinanzieren. Eine Stadt, in der die Arbeiterklasse längst durch gut bezahlte Expats ersetzt worden ist. Das war 1975 in Italien noch anders.