Sigfried Schibli, Basler Zeitung (16.09.2019)
Das Theater Basel reanimiert zur Saisoneröffnung ein selten gespieltes Bühnenwerk von Luigi Nono. Trotz brillanter Gesangsleistungen und sorgfältiger Regiearbeit wirkt das in den 1970er-Jahren komponierte Stück etwas verstaubt.
Ganz vergessen war das Stück nie, aber es ist schwer gezeichnet vom Zeitgeist der Nach-68er-Jahre. «Al gran sole carico d’amore» (etwa: «Unter der grossen Sonne von Liebe beladen») von Luigi Nono wurde 1975 an der Mailänder Scala uraufgeführt, danach gab es einige wenige Produktionen an hoch subventionierten Häusern, die mit diesem Werk ihren Sinn für soziale Gerechtigkeit und Demokratie dokumentieren wollten. Wobei ja in aller Regel gerade die Arbeit an Theatern auf straffer Führung durch Intendanten und auf klaren Hierarchien beruht.
Auch wenn Nonos Sonnen-Oper (im Original «Szenische Aktion in zwei Teilen») wegen ihrer musikalischen Qualitäten nie ganz aus dem Gedächtnis verschwunden ist, hat es der zweistündige Zweiakter nicht zu einem richtigen Opernerfolg gebracht. Seit der letzten szenischen Aufführung in Salzburg sind zehn Jahre vergangen.
Unkonventionelle Collage
Und offenbar hat niemand ausser das Theater Basel diese formal unkonventionelle Collage aus Texten, Parolen, Bildern und Klängen vermisst.
Im Programmheft der deutschen Erstaufführung 1978 in Frankfurt konnte der Komponist Helmut Lachenmann noch fabulieren, Nonos Musik sei «ein Bekenntnis zum Sozialismus als einer idealen Daseinsform». Solche Schwärmereien versagt sich die Opernabteilung des Theaters Basel, das mit der Schweizer Erstaufführung dieser Nicht-Oper die neue Spielzeit eröffnet.
Dafür ist jetzt fast mitleidig vom Scheitern der revolutionären Bewegungen von 1871 (Pariser Commune) und 1905 (Petersburger Aufstand), von linker Frauen-Power und einer «kommunistischen Séance» die Rede; was auch immer das sein mag.
Schon der Beginn erinnert an eine Beerdigung. Schwarz gekleidete Kommunardinnen und Kommunarden formieren einen Trauerzug, dumpfe Schläge aus dem Orchestergraben signalisieren Tod und Gewalt. Eine Figur mit Mikrofon und roter Perücke – sie mag für das Ancien Régime einer jeden Epoche stehen – setzt ein Spulentonbandgerät in Gang, und wir ahnen: Auf der Basler Bühne werden Themen von gestern, wenn nicht von vorgestern, verhandelt.
Filmbilder von den Pariser Mai-Unruhen flimmern über den Bühnenhintergrund, Assoziationen an die «Gelbwesten» versagt sich der Regisseur Sebastian Baumgarten wie überhaupt jegliche Aktualisierung. Aus dem Chor der Kommunarden schält sich eine Solostimme heraus – Belcanto auf neutönerisch.
Der Italiener Luigi Nono spart nicht mit sinnlichen Kantilenen und kunstvollen Chorszenen, und am Ende wird er den hervorragend a cappella singenden Theaterchor (Einstudierung Michael Clark) ganz ins Leise und ins Poetische tauchen.
Da kündigt sich der letzte Nono an, der mit Werken wie «Prometeo» und dem Streichquartett die Grenzen zum Verstummen auslotete.
Vorher aber werden wir in diesem sozialrevolutionären Bilderbogen mit Momentaufnahmen aus diversen Revolten und Revolutionen konfrontiert, denn Nono (1924–1990) glaubte wie sein Komponistenkollege Bernd Alois Zimmermann an die «Kugelgestalt der Zeit». Das meint, dass das Vorher und das Nachher in der Emanzipationsgeschichte der Menschen in ein Gleichzeitig zusammenrücken.
Überzeitlicher Orden
Kommunarden und moderne Guerillakämpfer mit Maschinengewehren, russische Aufständische, streikende Fabrikarbeiter und vietnamesische Mütter bilden eine Einheit. Die argentinisch-deutsche Guerilla-Kämpferin Tania (eigentlich Tamara) Bunke und die (hier vervierfachte) französische Kommunardin Louise Michel gehören beide zum imaginären Orden der überzeitlichen Revolutionärinnen.
Wir haben es mit einem Weltbild zu tun, in welchem Gut und Böse fein säuberlich geschieden sind. Den revolutionär Gesinnten gegenüber stehen die Vertreter der alten, kapitalistischen Ordnung, die nach Überzeugung Luigi Nonos nichts als eine Unordnung ist, gegründet auf Ausbeutung und Unterdrückung. In der Kostümierung von Christina Schmitt sind sie als Blut leckende Tiere gezeichnet. Mal regnet es gelbe, mal rote Flugblätter vom Bühnenhimmel, Reichskanzler Bismarck rudert als überdimensionale Figur mit Spitzhelm über die Bühne, und am Ende des ersten Teils, nachdem man der Guerillera Tania Bunke rote Nelken ins Grab nachgeworfen hat, verkündet eine Wandinschrift ungebrochen optimistisch: Wir kommen wieder!
Das rote Büchlein
Der zweite Teil istvon der Figur der Mutter aus dem Drama von Gorki geprägt, ihr Sohn Pawel wird ebenso wie die Prostituierte Deola – sie ist Teil einer Vierergruppe von Liebesarbeiterinnen – durch die Lektüre revolutionärer Bücher politisiert.
Ob es sich um Schriften von Karl Marx oder am Ende um die rote Mao-Bibel handelt, ist nicht erkennbar. Doch Pawel, der erfolgreich gegen einen Fabrikdirektor agitiert hat, kommt durch einen Heckenschützen ums Leben, und seine Mutter will die revolutionäre Mission des Sohnes fortführen.
«Sieg» verkündet eine Leuchtschrift in Grossbuchstaben, aber im Orchester spielt eine «Unterdrückungsmaschinerie», und auf der Bühne senkt sich eine Brücke wie eine Obstpresse nieder und droht die Menschen zu zermalmen (Bühne Janina Audick).
Luigi Nonos Musik bietet eine reiche Palette von Klangfarben unter Einbezug von Elektronik und typisch italienischen Belcanto-Elementen. Revolutionäres Liedgut («Bandiera rossa») klingt subtil an, wird aber nicht agitatorisch eingesetzt.
Feier des Scheiterns
Schliesslich hat man es mit einer abendfüllenden Feier des Scheiterns von Befreiungsbewegungen zu tun, und da wären pathetische Agitprop-Lieder fehl am Platz.
Das Sinfonieorchester Basel spielt im Graben unter Jonathan Stockhammer differenziert und bei Bedarf auch martialisch laut, die sängerische Besetzung ist von hoher Qualität (herausragend Rainelle Krause als Tania). Es gibt leicht ratlos wirkender Premierenapplaus für eine sorgfältige Produktion, die nicht verhehlen kann, dass «Al gran sole carico d’amore» ein Werk in der Lehrstück-Tradition von Bert Brecht ist und in den 44 Jahren seit seiner Uraufführung doch ein wenig Staub angesetzt hat.