Demoplakate auf der Bühne

Marina Bolzli, Berner Zeitung (03.12.2019)

Król Roger, 01.12.2019, Bern

Es ist eine mutige Vorstellung, eine aufregende auch: «Król Roger» von Karol Szymanowski wird im Berner Stadttheater erstmals in der Schweiz aufgeführt.

Adrett die Kleidung, die Frisuren, der Gesang. Gleissend das Licht, sauber und weiss das spärliche Mobiliar. Willkommen im Reich von König Roger, ein Reich der Biederkeit und Frömmigkeit. Hier erklingen opulente Chorpassagen in der gefüllten Kirche.

Es ist das Einzige, was mitreisst in dieser sterilen Umgebung (Bühne: Ric Schachtebeck). Und doch macht sich bald eine Unruhe breit: Denn ein Hirte predigt die eigene Religion, huldigt dem eigenen Gott, einem Gott der Liebe, der Güte und der Sinnlichkeit. Da braut sich was zusammen in den altehrwürdigen Gemäuern des Berner Stadttheaters.

«Król Roger» heisst die Oper des polnischen Komponisten Karol Szymanowski, sie wurde 1926 uraufgeführt. Doch erst jetzt wird sie erstmals in der Schweiz gezeigt. Das hat ein erstaunliches Medieninteresse geweckt: Für die Premiere gibt es Akkreditierungen aus Deutschland und England, ein ganzes Filmteam ist aus Polen angereist.

Nur das Berner Publikum reagiert noch etwas verhalten: Die Premierenvorstellung ist zwar gut gefüllt, aber längst nicht ausverkauft. Es locken auch keine bekannten Arien, keine grossen Stars.

Erfrischende Beherztheit

Was diesen Abend ausmacht, ist eine erfrischende Beherztheit. Denn die Inszenierung von Ludger Engels will viel. Das zeigt sich schon nach den ersten Takten, als eine Art Fliegenvorhang gelüftet wird und dahinter das Orchester erscheint. Es sitzt auf der Bühne, ist Mittelpunkt und Kulisse zugleich.

Doch damit nicht genug der Verwirrung. Der Hirte und Unruhestifter tritt im ersten Akt nicht etwa hinter der Bühne hervor, nein, er erhebt sich unter Fanfaren und mit einer Goldkrone aus dem Publikum. Mit langen Haaren, engen Jeans und weisser Lederjacke erinnert dieser Hirte (Andries Cloete) an einen Hippieführer.

Und schon öffnet Königin Roksana (Evgenia Grekova) ihre strenge Frisur, lässt ihr beeindruckendes Haar wallen. Später werden Rosen gestreut, Pullover ausgezogen, Hemden zerrissen und Plakate in die Luft gehalten.

Das Publikum sitzt quasi mittendrin – und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die ungewöhnliche Sprache mit diesen fast ausgespuckt wirkenden Lauten, das Bühnenkonzept, das die Zuschauerinnen und Zuschauer miteinbezieht.

Und die Musik, engagiert und dringlich vom Berner Symphonieorchester vorgetragen, ist eigenwillig, manchmal disharmonisch anklingend. Dirigent Matthew Toogood hat da nicht die leichteste Aufgabe, schliesslich befinden sich die Sänger und Sängerinnen mal vor, mal hinter, mal mitten im Orchester.

Das erzeugt immer wieder ganz grossartige Effekte, etwa im zweiten Akt, als Roksana hinter dem Orchester ein zärtliches Lied anstimmt, um ihren Mann, König Roger (Mariusz Godlewski) zu besänftigen. Wie der Gesang einer Sirene erklingt dieses Lied, seltsam entrückt, räumlich entfernt auch, doch lockend und einlullend.

Der König bleibt blass

Auch die Aufgabe für die Sängerinnen und Sänger ist knifflig: Polnisch ist nicht eben eine leicht singbare Sprache, da ist es wohl mehr als Zufall, dass bis auf Andries Cloete alle vier Hauptdarsteller aus dem slawischen Raum stammen.

Doch gerade Cloete haucht diesem Hirten ein Charisma ein, singt überzeugend, ist ein sanft auftretender Anführer, der mit seinem hellen Tenor zuerst Roksana, dann Rogers Berater Edrisi (Nazariy Sadivskyy) und schliesslich Roger selbst verführt.

Der König hingegen bleibt in der Vorstellung seltsam blass – und das liegt nicht nur an seinem grauen Anzug. Mariusz Godlewski vermag weder gesanglich noch schauspielerisch ganz zu überzeugen, man nimmt ihm sein Hadern, seine Unruhe, die im Libretto angelegt wären, zu wenig ab. Ansonsten aber liefert das ganze Ensemble eine reife Leistung ab.

Chorale Wucht

Ein Ensemble, das immer wieder auf der sehr gefüllten Bühne überzeugen muss. Schlüsselmomente geschehen oft im Beisein des Chors (Leiter: Zsolt Czetner), etwa, als die Stimmung kippt und sich das Volk dem Hirten anschliesst.

Plötzlich werden von überallher Plakate in die Luft gestreckt, sie fordern «Sinnlichkeit», «Ekstase» oder bieten «Free Hugs». Die Ekstase wird greifbar, wird hörbar unter dem wuchtigen und einnehmenden Klang des Chors, auch wenn unter heutigen Ansprüchen Ekstase anders klingen müsste, aufregender, vielleicht auch lauter. Doch das steht ausserhalb dieser Aufführung, 1926 war die Welt eine andere.

Die Geschichte aber, die in dieser äusserst kurzen 3-Akt-Oper – der Schlussapplaus erklingt nach nicht einmal 90 Minuten – erzählt wird, ist eine universelle: Es ist die Mär einer friedlichen Revolution, bei der die Welt verändert wird durch Sanftmut und Gesang. Was für eine schöne Vorstellung, gerade auch heute.