Die Lust kehrt zurück

Marianne Mühlemann, Der Bund (03.12.2019)

Król Roger, 01.12.2019, Bern

m Stadttheater gelingt Karol Szymanowskis «Król Roger» als musikalisch-sinnliches Psychogramm. Die Schweizer Erstaufführung in Ludger Engels Regie entpuppt sich als Entdeckung.

Bloss keine Angst vor «Król Roger» (König Roger): Die Oper des polnischen Komponisten und Pianisten Karól Szymanowski ist ein fantastisches Vexierspiel, in dem man sich schnell und problemlos heimisch fühlt. Und dies, obwohl die Wahrscheinlichkeit gross ist, dass man dem Werk zum ersten Mal begegnet: Man badet in schwebenden spätromantischen Klängen, die mit kühnen Dissonanzen durchsetzt sind.

Der organische Fluss erinnert zuweilen an Richard Wagner. Dann scheint die Musik getränkt im schwülen Weihrauch orthodoxer Kirchenmusik. Oder man wähnt sich in der christlichen Passionsgeschichte mit Volkschören, zaudernden Richtern und einem unschuldig zum Tod verurteilten Aufrührer. Überall Anspielungen, Motive, die man kennt. Selbst kleinste Gesten, wie der Schlag auf die Wange Jesu, der Verräterkuss oder die Bergpredigt (hier erhöht von einem Bürotisch aus), werden subtil eingebaut. Musikalisch sind etwa Strawinsky («Feuervogel») oder Richard Strauss («Salome») in den harmonischen Wendungen und Instrumentalfarben des üppig besetzten Orchesters gegenwärtig. Und dank den deutschen Übertiteln bekommt man auch die Bedeutung der traumtrunkenen Gesänge auf Polnisch mit.

Dass die Worte an die kunstvoll-spirituelle Lyrik des persischen Dichters Hafiz erinnern, ist kein Zufall. Szymanowski hat sich damit intensiv auseinandergesetzt. Und so finden in dieser Oper Orient, Okzident, Weltliches, Kirchliches, Geträumtes und Wirkliches zusammen. Und man fragt sich, kann das funktionieren? Konzert Theater Bern zeigt die dreiaktige Rarität als Schweizer Erstaufführung. Den äusseren Anlass dazu gibt das interdisziplinäre Festival Culturescapes, das dieses Jahr dem Schwerpunkt Polen gewidmet ist. Um es gleich vorwegzunehmen: Der Aufwand hat sich in jeder Hinsicht gelohnt.

Orchester auf Augenhöhe

Eigentlich ist diese Oper ja keine richtige Oper. Vielmehr fühlt man sich in einem Oratorium. Die drei Akte liefern kaum dramatische Handlungen, die sich szenisch effektvoll ausschlachten liessen. Die Emotionen, Konflikte und Zweifel, die da in Bilder gegossen werden, spielen sich unsichtbar in den seelischen Abgründen der Protagonisten ab.

Eine Herausforderung also für die Regie. Ludger Engels hat ein klares Konzept (vgl. Interview im «Kleinen Bund», 30.11.). Er liest und versteht die drei Akte (die richtigerweise ohne Pause gespielt werden) als grosses Klanggemälde. Engels platziert das Berner Symphonieorchester (umsichtig und dynamisch geleitet von Matthew Toogood) ins Zentrum auf die Bühne, sodass die mächtigen Klangwellen auf Augenhöhe heraus ins Publikum schwappen. Das erzeugt einen berauschenden Sog, dessen Kraft man sich nicht entziehen kann.

Visionäroder Scharlatan?

Im Original spielt «Król Roger» in Sizilien im 12. Jahrhundert. Indem Engels den Stoff in eine nicht näher definierte Gegenwart holt, gelingt ihm die Aktualisierung. Das Stück zeigt im Zeitraffer die Verwandlung eines Staats, dessen König (Mariusz Godlewski, Bariton) in eine Identitätskrise stürzt. Ausgelöst wird sie durch einen Hirten (Andries Cloete, Tenor), der als rätselhafter Fremder in die von Kirche, Freudlosigkeit und starren Regeln gelähmte Gesellschaftsordnung platzt. Ist der charismatische Eindringling ein Visionär oder ein Scharlatan? Die Ungewissheit gehört zur Diplomatie dieses Stücks, das viele Interpretationsräume öffnet.

Der Hirte verkörpert einen Paradiesvogel, der wie ein PR-Mann für seinen Gott auftritt. Seine Botschaft lautet: Lebenslust, Gewaltlosigkeit, Respekt vor Andersdenkenden. Wer ehrlich mit sich selber sei, so sein Credo, werde frei. Und Freiheit möchten hier alle. Denn trist ist der Alltag tatsächlich. Die Herren (des Chors) tragen Beamtengrau, die Frauen haben die Hände dauergefaltet (Heide Kastler). Da lassen sich keine Berge versetzen. Selbst den Kindern sind Langeweile und Lustfeindlichkeit ins Gesicht geschrieben. Singen aber tun alle wunderbar und voller Hingabe und Sinnlichkeit (Choreinstudierung Zsolt Czetner; hervorragend vorbereitet der Kinderchor der Singschule Köniz).

Die im Hintergrund vom Orchester okkupierte Bühne (Ric Schachtebeck) ist als einfache, aber multifunktionale Arena konzipiert. Videoprojektionen und geheimnisvolle Doppelbelichtungen bieten viele Verwandlungsmöglichkeiten. Feinste Lichtstimmungen (Bernhard Bieri) – von dekadentem Zartrosa bis zu loderndem Orange – verstärken die Klangfarben der Musik. So verdichtet sie sich zum synästhetischen Gesamterlebnis. Und zum Schluss, wenn die Freiheits- und Flower-Power-Gefühle auf der Bühne die Oberhand gewinnen und der Guckkasten «gesprengt» wird, dann wird auch das Publikum in den Sehnsuchtstaumel miteinbezogen.

Homoerotische Anspielungen

Alle scheinen auf der Suche in dieser Oper. Selbst der Komponist. König Roger küsst seinen Berater Edrisi (Nazariy Sadivskyy) auf den Mund, als er endlich den Mut findet, die Krone abzulegen. Es ist ein Outing, das Szymanowski nicht wagte. Der Komponist litt unter seiner Homosexualität, dienicht mit der christlichen Moral seiner katholischen Umgebung in Einklang zu bringen war. Dass «Król Roger» von subtilen Brüchen durch homoerotische Anspielungen lebt, ist also nicht nur der Extravaganz von Ludger Engels Regie geschuldet, sondern gehört zur DNA dieses grossartigen Opernsonderlings.

Tiefe und Charisma

Die musikalische Leistung aller Beteiligten ist enorm und das Resultat bis in die Nebenrollen eine Meisterleistung. Der Berner «Król Roger» erntet denn auch verdient langanhaltenden Applaus. Andries Cloete, ein androgynes Wesen aus einer anderen Welt, brilliert durch sein grosses Verwandlungspotenzial. Egal, ob er sein Anderssein mit auf Stöckelschuhen oder als predigender Heide im Lendenschurz demonstriert, seine Stimme hat Tiefe und Charisma. Überzeugend auch Mariusz Godlewski als König Roger. Von existenziellzerbrechlich bis mächtig reicht das Intensitätsspektrum seines satten Baritons. Singend lotst er in die Seelenabgründe des Zweiflers, der sich im Zeitraffer vom steifen Patriarchen zum sinnenfreudigen Kumpel mausert.

Die Rolle des Edrisi, Rogers Berater und Gespiele, ist bei Nazariy Sadivskyy gut aufgehoben. Selbst im Liegen (unter der Regenbogenflagge) singt er mit vorzüglicher Klarheit und Kraft. Und in der Selbstversunkenheit, mit der er mit den abgeschnittenen Hemdsärmeln seines Königs spielt (und später mit dem Glitzerkorsett des Hirten), kann man bereits die Flügel wachsen sehen, die auch ihm in die innere Freiheit helfen werden.

Eine Wucht stimmlich wie optisch ist Evgenia Grekova als Königin Roksana. Ihr Spiel ist ein gut ausbalancierter Mix von Selbstbestimmtheit, Emanzipation und liebevollem Verständnis für ihren Mann Roger, dem sie ihre Erleuchtung kundtut. Wie sie sich singend als entkörperlichte Vision aus dem Off in eine geheimnisvolle Fata Morgana verwandelt, ist grossartig.

Über die Gründe, warum das Werk auf den Opernbühnen Seltenheitswert hat, kann man also nur spekulieren. Am Konzert Theater Bern hat man sich den Schwierigkeiten gestellt, die in der Handlungsarmut des Stücks, der polnischen Sprache und der komplexen Partitur lauern. Man wird Szymanowskis «Król Roger» nicht nur als Rarität in Erinnerung behalten, sondern auch als Erfolg für Orchester und Ensemble.