Aufgeweichte Konturen

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (27.09.2005)

Ledi Macbet Mzenskowo ujesda, 25.09.2005, Zürich

Dmitri Schostakowitschs «Katerina Ismailowa» in Zürich

Wie kühn und neuartig muss Dmitri Schostakowitschs «Lady Macbeth von Mzensk» bei ihrer Uraufführung 1934 in Leningrad gewirkt haben: eine Kaufmannsfrau, die aus Ehe und gesellschaftlichen Zwängen auszubrechen sucht, indem sie sich einem Knecht hingibt, dabei zur Mörderin an ihrem tyrannischen Schwiegervater, ihrem lieblosen Mann und schliesslich, auf dem Weg ins sibirische Sträflingslager, an ihrer jungen Rivalin wird, dazu eine Musik von greller Drastik, voller Stilbrüche. - Was man jetzt im Opernhaus zu hören und zu sehen bekommt, lässt die Sprengkraft dieses Schlüsselwerks der russischen Avantgarde, das schon 1936 seine Schweizer Erstaufführung in Zürich erlebte, kaum mehr erahnen.

Da ist zunächst die Lösung der Fassungsfrage (vgl. NZZ 24./25. 9. 05). Auf Wunsch des Dirigenten Vladimir Fedoseyev hat sich das Opernhaus für die vom Komponisten unter politischem Druck erstellte geglättete Neufassung von 1962/63 entschieden, die heute auf westlichen Bühnen kaum mehr im Gebrauch ist. Auch in ihr gibt es die für Schostakowitsch typischen Farbwechsel, rhythmischen und klanglichen Härten, dynamischen Extreme sowie Stilbrüche in Form von Marsch-, Walzer- und Geräuscheinlagen. Doch weit stärker als in «Lady Macbeth von Mzensk», der Erstfassung, sind sie in «Katerina Ismailowa» eingebunden in einen übergreifenden, quasi sinfonischen Formzusammenhang. Das wird von Fedosejew und dem hochmotivierten Orchester mit grosser Gestaltungs- und Überzeugungskraft hörbar gemacht.

Die eigentliche Problematik der Aufführung liegt anderswo. Die Bühne von Francis Biras evoziert mit ihren aquarellartigen Hintergrundsprospekten und ihren russischen Versatzstücken, die mit Eva Desseckers Kostümen korrespondieren, eine Stimmungshaftigkeit, welche die Konturen der Schauplätze auflöst statt schärft. Das Schlussbild in der Steppe - Leitungsmasten vor weitem Himmelshorizont, der sich verdüstert, und dort, wo Katerina ihre Nebenbuhlerin Sonetka (Katharina Peetz) mit sich in den See zieht, ein blauer Wasserstreifen - verströmt poetische Melancholie. Einzig die Polizeirevier-Szene erinnert noch daran, dass Schostakowitschs Oper ebenso sehr Satire wie Tragödie ist.

Mit dem Weichzeichner haben auch der Regisseur Klaus Michael Grüber und seine Mitarbeiterin Ellen Hammer gearbeitet. Die brutalen Szenen - Vergewaltigung der Köchin Axinia (Liuba Chuchrowa), Auspeitschung Sergeis, Tötung Sinowis - werden zwar realistisch gezeigt, aber in moderater Form. (Die von Stalin beanstandete Beischlafszene hat der Komponist selbst in der Zweitfassung eliminiert.) Und nicht nur den Bildern, auch den Figuren selbst mangelt es an Konturschärfe. Solveig Kringelborns Katerina ist eine ergreifende, aber keine packende Gestalt, man spürt nicht, wie sie die seelischen und körperlichen Misshandlungen aus ihrer Lethargie herausreissen und mit Entschluss- und Tatkraft aufladen, ihr sexuelles Begehren manifestiert sich bloss im Rot ihres Kleides, und ihrer hellen, empfindsamen Stimme wünschte man mehr Volumen und Resonanz. Alfred Muff ist zwar ein an Gestalt und Bassesgewalt imposanter Boris, doch es fehlt ihm das Hinterhältige, Lüsterne und - durch die russische Sprache bedingt? - überdies die rhythmische und deklamatorische Prägnanz.

Da hat es der Ukrainer Wiktor Lutsiuk als Katerinas Liebhaber Sergei leichter. Er zeichnet vokal - dank seinem gut fokussierten, etwas engen Tenor - wie darstellerisch ein plastisches Rollenbild des berechnenden Schürzenjägers. Nicht nur schwach, sondern profillos wirkt dagegen Katerinas Ehemann Sinowi, dem Reinaldo Macias seinen geschmeidigen Tenor leiht. Aus der langen Reihe von Nebenfiguren ragt Pawel Daniluks alter Zwangsarbeiter heraus. - Der Beifall des Premierenpublikums war einhellig, aber nicht enthusiastisch - gemässigt wie die Zweitfassung und ihre szenische Umsetzung.