Simon Bordier, Basler Zeitung (16.12.2019)
Nach seiner gefeierten «Traviata» inszeniert der Regisseur Daniel Kramer einen weiteren Opernklassiker am Theater Basel: Er zeigt Puccinis «La Bohème» als buntes Weihnachtsspektakel, bei dem am Schluss symbolträchtig gestorben wird.
Maria und Josef sind nicht die Einzigen, die auf der Suche nach einer warmen Herberge Rückschläge und soziale Kälte erfahren. Als eine freie Spielart der Weihnachtsgeschichte kann man derzeit Giacomo Puccinis Opernklassiker «La Bohème» am Theater Basel erleben: Während eine elegante, schwarz gekleidete Menge dem weihnächtlichen Kaufrausch frönt, sieht sich die junge Künstlertruppe rund um Marcello, Rodolfo und Mimì zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Die Kreativen leiden vor allem an steigenden Mietzinsen in der Innenstadt (Gentrifizierung), wie man anhand von Graffiti erfährt. Der schwer kranken Mimì fehlt zudem Geld für Medizin.
Pompöse Weihnacht
Freunde pompöser Weihnachtsdekorationen und detailreich gestalteter Kulissen kommen in der Neuinszenierung des US-Regisseurs Daniel Kramer – er zeichnete 2017 für die gefeierte Basler «Traviata» verantwortlich – voll auf ihre Kosten. So haben Kramer, Annette Murschetz (Bühne) und Esther Bialas (Kostüme) das Premierenpublikum am Samstag unter anderem mit einem riesigen Tannenbaum überrascht. Dieser wie auch die kleineren Bäume sind für das Künstlerkollektiv indes unerschwinglich, obwohl es dringend Holz zum Heizen brauchte.
Nein, die Bäume sind für Leute mit Geld gedacht. Der Theaterchor sowie die Mädchen- und Knabenkantorei Basel spielen eine Horde konsumwütiger Menschen: Ein Weihnachtsmann verteilt Geschenke, Kinder greifen mit gierigen kleinen Fingern nach ihnen, die Mutter schimpft, der Papa droht mit Prügel. Eine Marschkapelle bringt die Stimmung auf den Punkt – eine herrlich ausgearbeitete Szene.
Gehobene Langeweile
Doch weder der Pomp noch die verruchte Welt der Künstlertruppe, die aus einem Ghettoblaster einen Puccini-Weihnachts-Elektro-Remix dröhnen lässt, führen besonders weit. Man vermisst einen tiefschürfenden Ansatz, wie ihn zuletzt das Konzert Theater Bern und Regisseur Matthew Wild an den Tag gelegt haben: Sie erzählen «La Bohème» aus Sicht des greisen Marcello in Rückblenden und führen so ein zentrales Moment der Oper – die Erinnerung an eine jugendliche Liebe – weiter.
In Basel verzichtet man auf Experimente und nimmt das Risiko gehobener Langeweile in Kauf. Dank starker Personenführung gelingen einige lustige Szenen, wie jene zu Beginn, als die jungen Kreativen ihren geldhungrigen Vermieter Benoît (Alexander Vassiliev) mit Alkohol abfüllen und mit Gewissensbissen in seine Wohnung schicken.
Interessant ist auch der erste Auftritt der Protagonistin, gespielt von der Sopranistin Cristina Pasaroiu: Die von Krankheit gezeichnete Mimì muss sich ihren Weg in die Künstlerwohnung und zu ihrem späteren Geliebten Rodolfo über einen Stapel Autoreifen bahnen, wobei sie ins Stolpern gerät. Dieses Gefahrenmoment wird vom Sinfonieorchester Basel gekonnt verstärkt. Auch lassen es sich die Musiker unter der Leitung ihrer neuen Musikdirektorin Kristiina Poska nicht nehmen, die leidenschaftlichen Ausbrüche der Sänger emphatisch zu begleiten oder mit einzelnen Dreiklängen und Harfenpizzicati dem Liebeszauber nachzuhelfen. Vom Orchesterspiel bleiben Einzeleindrücke in Erinnerung; Insgesamt bleibt es allerdings recht unscheinbar. Nur langsam in Fahrt kommen die Gastsänger Davide Giusti als Rodolfo und Cristina Pasaroiu als Mimì. Der Tenor bringt seine Liebeserklärung,«Che gelida manina», mit viel Kraft über die Rampe, das hohe C ist fast ein Brüllen. Manch eine würde da weglaufen, nicht jedoch die herzensgute Mimì. Sie erwidert den Tenorgesang mit einem ebenfalls etwas angestrengt wirkenden «Sì. Mi chiamano Mimì», steigert sich im Verlauf aber merklich. Auf dem Sterbebett bezaubert sie mit «Sono andati?» und beklemmend feinen Liegetönen.
Der Bariton Domen Križaj, der zwei Jahre im Basler Opernstudio sang und seit kurzem Teil des Ensembles ist, entwickelt sich von der Nachwuchshoffnung zu einem Pfeiler der hiesigen Oper. In «La Bohème» gibt er einen umwerfend virilen Marcello ab, der im Streit mit seiner Freundin Musetta zum regelrechten Sturkopf wird. Letztere ist allerdings ein Mordsweib, interpretiert von Valentina Mastrangelo.
Neue Männerliebe
Glücklich dürfen sich der Musiker Schaunard (Gurgen Baveyan) und der Philosoph Colline (Paull-Anthony Keightley) schätzen. Die beiden bleiben sonst bei Puccini partnerlos, entdecken in Basel aber ihre Liebe füreinander. Das schwule Pärchen gehört zu den stärkeren Einfällen der Regie und lenkt anders als manch andere Idee kaum vom Kern des Stücks ab.
Denn es ist zwar nicht so, dass einen die finale Sterbeszene kalt lassen würde. Aber nachdem ein riesiger Tannenbaum, ein fetter Mercedes und ein Riesenpenis die Bühne belebt haben, sieht sich die Regie wohl gezwungen, auch das Ende aufzumöbeln. Die «Mantelarie» des Philosophen gerät in der Folge etwas gar weinerlich, der sterbenden Mimì will der Denker einen Strauss roter Rosen überbringen, und neben Mimì wacht eine Marienfigur. Die Episode bleibt zwar haften, aber nur als eine von vielen. Der Tod und der verzweifelte Rodolfo haben denn auch nicht immer das letzte Wort: Am 31. Dezember wird der Opernabend in Form einer Silvesterfeier fortgesetzt. Die Ghettoblaster – «bumm bumm» – stehen bereit.