Siegbert Kopp, Südkurier (17.12.2019)
An der Oper ist Puccinis „La Bohème“ mit Christbäumen und hervorragenden Sängern in einer subtilen Inszenierung zu sehen
Weihnachtsverweigerer haben derzeit einen schweren Stand. Überall tönt es, überall glitzert es. „Fröhliche Weihnacht überall!“ Kein Entkommen, nirgends, auch nicht im Theater Basel. Draußen auf dem Barfüsserplatz gibt es den ältesten Weihnachtsmarkt der Schweiz. Drinnen gibt das Theater Basel die Puccini-Oper „La Bohème“ mit einer Weihnachtsszene im zweiten Bild. Auf nachtschwarzer Bühne prangt fast schon bedrohlich ein riesiger Weihnachtsbaum mit roten Kugeln und glitzernden Lichterketten. Menschen in dunklen Mänteln schleppen knallbunte Einkaufstüten. Der Weihnachtsmann tritt auf, es gibt Geschenke für die armen Leut’, und es schneit, was das Zeug hält. Aber dort hinten, trägt da nicht jemand eine rote Jakobinermütze?
Behutsame Überführung in die Gegenwart
Die Basler Inszenierung von Daniel Kramer ist keine wohlfeile Revolte gegen billigen Weihnachtsrummel. Vielmehr überführt der Regisseur die Puccini-Oper, uraufgeführt 1896, sehr behutsam in die Gegenwart - mit viel Fingerspitzengefühl für die Personen und musikalischem Einfühlungsvermögen. Puccini kennt nicht die krasse Unterscheidung zwischen E- und U-Musik; seine Oper hat Unterhaltungselemente. Und genau hier setzt die Regie klug an und die Musik ein.
Noch bevor im Orchester die Blechbläser im Fortissimo mit dem markant absteigenden Viertonmotiv loslegen, hören wir vom Band den modernen „Sound der Bohème“: einen Mix aus Klangfetzen, quasi ein akustisches Bild unserer Städte in der Vorweihnachtszeit mit Weihnachtsliedern, Straßenlärm, Electropop und Puccini (Klangkomposition von Marius und Ben de Vries). Eins geht ins andere in der Konsumwelt. Die fließenden Übergänge, bei Puccini zur Jahrhundertwende angelegt, werden im Weiteren fortgeführt in der kongenialen Zusammenarbeit zwischen Regisseur Daniel Kramer und Chefdirigentin Kristiina Poska, Musikdirektorin für 2019/20. Das Sinfonieorchester Basel überzeugt durch Nuancenreichtum, mit viel Sinn auch für das Pulsierende und Leichtfüßige von Puccini, ohne die Effekthascherei zu bedienen.
Mimi hat Krebs
„La Bohème“ erzählt Liebes- und Beziehungsgeschichten im mausarmen Künstlermilieu. Man ist vergnügter Dinge, schlawinert sich durchs Leben und pflegt seine großen Träume und kleinen Eifersüchteleien. Bis die Realität ernst macht. Mimi, die große Liebe des Dichters Rodolfo, muss sterben. Die Sopranistin Cristina
Pasaroiu gibt die Mimi als Teenie auf anrührend schlichte Art. Und so stirbt sie auch. Sie hat Krebs, den kahlen Kopf unter der Kapuze. Im innigen Duett mit Davide Giusti als schüchternem Rodolfo geht Mimi dem Tod mit großer Gefasstheit entgegen. Kein falscher Ton, keine falsche Rührseligkeit. So ehrlich, wie die gesamte Inszenierung die Gefühle ernst nimmt und zuckrige Genremalerei scheut.
Bühnenbildnerin Annette Murschetz hat die Wohngemeinschaft der Bohemiens im Außenbezirk einer Stadt angesiedelt. Adieu, idyllische Künstlermansarde mit Blick über die schneebedeckten Dächer von Paris. letzt hausen die vier jungen Männer in einem Hinterhof mit Sperrmüll-Mobiliar. Ein Ölfass gibt den Heizofen ab, die Tischplatte liegt auf Autoreifen. Maler Marcello sitzt nicht mehr vor der Leinwand, er ist Fassadensprayer. Nebenbei verkauft er Christbäume. Überhaupt die Christbäume, sie finden sich in allen vier Bildern. Zuerst liegen die Tannen zum Verkauf. Im zweiten Bild erhebt sich der geschmückte Riesenbaum. Im dritten Bild werden die kahlen Tannen entsorgt. Im letzten Bild, als Mimi stirbt, hat sich Marcello bereits eine kleine Tannenplantage im Hinterhof angelegt. Das Leben geht weiter, aber anders, denn die Begegnung mit dem Tod hat die einst unbekümmerten Künstler verändert. Das führt die exzellente Personenführung eindrücklich vor Augen.
Drei verschiedene Liebesmodelle
Weihnachten ist das Fest der Liebe, heißt es. „La Bohème“ hat gleich drei Liebespaare. Die Regie arbeitet drei unterschiedliche Modelle heraus. Mimi und Rodolfo stehen für die romantische Liebe: Zwei eher schüchterne Naturen wachsen durch ihre Seelenverwandtschaft über sich selbst hinaus und hinein in einen Gesang von enormer Strahlkraft. Diesem romantischen Paar gegenüber steht der heftige Liebeskampf des zweiten Paars: Domen Krizaj als Macho Marcello und Sarah Brady als selbstbewusste Musetta sind sich an Leidenschaftlichkeit und gesanglicher Ausdrucksstarke ebenbürtig. Über das Liebesieben des dritten Paars, Schaunard und Colline, gibt Puccini wenig preis. In Basel polt sie der Regisseur kurzerhand zum schwulen Paar um, warum nicht.
Weihnachten ist das Fest der Überraschungen, es darf auch liebevoll amüsieren. Dabei hat Paull-Anthony Keightley als tuntig-extrovertierte Colline durchaus eine ernsthafte Seite: In der Mantelarie entfaltet er sehr fein seine Trauer über das Sterben von Mimi. Sein Lebenspartner Schaunard (Gurgen Baveyan) trägt nicht nur einen rosa Männerdutt zur Schau, sondern er bringt Geld ins Haus und vor allem seinen beweglichen Bariton.
Derart subtil angelegt zwischen Ernst und leiser Ironie kann Weihnachten gelingen. Viel Applaus für alle Beteiligten, auch für den Chor des Theaters und die Mädchen- und Knabenkantorei Basel.