Alexander Dick, Badische Zeitung (16.12.2019)
Die Weihnachtsidylle ist nur Schein: Daniel Kramer inszeniert und Kristiina Poska dirigiert Puccinis "La Bohème" am Theater Basel.
Direkt neben dem Theater in Basel steht die Elisabethenkirche, der bedeutendste neugotische Sakralbau in der Schweiz. Harte Beats schallen aus ihr an diesem Samstagabend, das bewegte Licht der Scheinwerfer streift die bunten Fenster. Drinnen ist "Bravo Hits-Party". Denn die Elisabethenkirche ist offene Kirche, man kann sie mieten für Veranstaltungen – sie ist "Gotteshaus und Menschenhaus in einem" definiert der Trägerverein ihren Nutzungszweck.
Vielleicht schwebte Regisseur Daniel Kramer etwas Ähnliches mit dem Theater vor – "offene Oper". Nicht nur drüben in Elisabethen wummern die Bässe, auch im Theater sind sie präsent. Wenn sich der Vorhang zur Neuinszenierung von Puccinis "La Bohème" hebt, herrscht erst mal Tacet im Orchestergraben. Stattdessen vernimmt man die Rhythmen der Gegenwart – Rap, HipHop & Co.
Eine "Offene Oper"?
Aus dem Gedröhne schälen sich Melodiefetzen aus Puccinis Orchestervorspiel, denn das ist nicht irgendein Popgedöns, sondern schimpft sich Klangkomposition "Sounds of Boheme". Wären die alten Meister von Bach bis Puccini mal darauf gekommen, dass man Klänge zu einer Komposition vereinen kann... Heutzutage wird natürlich performed – und dafür zeichnen in Basel Marius und Ben de Vries verantwortlich. Man kann ihrem Stückwerk nicht entkommen, denn es soundet zwischen allen vier Akten – Bildern. Puccini im Hier und Heute? Offene Oper? Klanglich war der Komponist jedenfalls für seine Zeit deutlich innovativer als das Duo de Vries mit seinen erwartbaren Soundcollagen für die heutige.
Mimi trägt die Blumen, von denen sie singt, als Tattoo
Wer’s bis jetzt noch nicht verstanden hat: Diese "Bohème" spielt in der Gegenwart. Einer Großstadtgegenwart aus dem Skizzenbuch der Kapitalismuskritiker. Aus der Mansarde im Quartier Latin hat Bühnenbildnerin Annette Murschetz die Reste eines Häuserblocks gezaubert, den die Abrissbirne schon halb zertrümmert hat. "Your luxury is our displacement" steht an einer Mauer zu lesen; vermutlich hat Marcello es dorthin gesprayt. Der Wohlstand der anderen, die Kostümbildnerin Esther Bialas als schwarze Masse mit vielen bunten Einkaufstüten zeichnet, wird im Café-Momus-Bild deutlich. Ein Luxusvan als erster Preis einer Weihnachtstombola steht neben dem vor Kitschkugeln strotzenden riesigen Weihnachtsbaum.
Die Zivilisationskritik schreitet weiter voran: Im dritten Bild hat Marcello sich mit dem System ein wenig arrangiert und gestaltet die Fassade des Zollgebäudes, das hier zum Szeneclub mutiert ist, mit großen Graffiti. Und dann die Mansarde im Frühling, letztes Bild: Die Natur holt sich den Raum zurück, vor den Ruinen wachsen kleine Nadelbäume – die Christbäume von morgen? Der Van ist zur Schrottleiche geworden, und auf den ausgebauten roten Kunstlederrücksitzen lebt Rodolfo – und stirbt Mimi. "Exciting New Real Estate Opportunity" steht jetzt auf einer Mauer zu lesen – Opera for Future?
Es muss ganz viel schneien auf der Bühne
Diese Lesart ist durchaus spannend: Denn die Regie ist immer sehr nah am Text. Die Bohème des 19. Jahrhunderts, wie man sie aus den vielen traditionellen Deutungen dieser Oper kennt, wirkt gegen die des 21. wie ein Idyll. Was sie freilich nie war, und was Puccini im Übrigen meisterhaft musikalisch auszudeuten versteht. Trotzdem erreicht Daniel Kramer, der in Basel vor einigen Jahren schon mit einer reichlich radikalen "La Traviata" aufwartete, dass man sich nach der Fiktion der Idylle zurücksehnt. Und so ganz kann er von ihr auch nicht lassen. Im ersten und zweiten Bild muss es ganz viel schneien auf der Bühne – da ist die legendäre Inszenierung Franco Zeffirellis auch nicht so fern. Doch die Figuren, die der Amerikaner Kramer zeigt, sind deutlich heutiger. Mimi trägt die Blumen, von denen sie singt, als Tätowierungen auf der Haut; sie stirbt zwar in den Armen Rodolfos, doch unmittelbar zuvor noch lag dessen Kopf auf ihrem Schoß – ein Pietà-Bild, das unterstreicht, wie sich Anno 2019 die Kräfteverhältnisse zwischen den Geschlechtern verschoben haben.
Auch musikalisch liegen die Stärken bei den Frauen. Cristina Pasaroiu singt und spielt eine ergreifende Mimi; mit einem reichen Potenzial an artikulatorischen Möglichkeiten und einer lyrischen Eleganz, die von wenigen Schärfen in der Höhe abgesehen, an große Interpretinnen dieser Partie wie Mirella Freni erinnern. Valentina Mastrangelo ist Musetta: Mehr Koketterie, mehr Grazie, mehr Widerspenstigkeit kann man stimmlich in diese schwierige Partie nicht legen! Davide Giustis Rodolfo ist demgegenüber doch ein bisschen blass: solide in der Mittellage und mit warmem, dunklem Tenorschmelz wirkt er in der Höhe etwas angestrengt, forciert und glanzlos. Aus dem rundum soliden Männertrio Schaunard (Gurgen Baveyan), Colline (Paull-Anthony Keighthley) ragt Domen Krizajs viriler, beweglicher Marcello heraus. Alexander Vassiliev gestaltet die beiden kleinen Partien des Benoît und Alcindoro mit Sorgfalt und Charme.
Die Dirigentin ist auf einem guten Weg
Dass Chor und Kinderchor in den großen Ensembles nicht immer perfekt koordiniert sind, hat man wohl noch dem Premierenabend zuzuschreiben. Freilich erfordert gerade das zweite Bild meisterliche Koordination in der turbulenten Simultanbewegung. Kristiina Poska ist da auf einem sehr guten Weg. Die estnische Musikdirektorin am Theater Basel arbeitet Puccinis sinfonische Farbenvielfalt mit dem manchmal bei den Bläsern etwas zu lauten, sonst aber sehr differenziert agierenden Sinfonieorchester Basel mit großer Leidenschaft heraus. Eine erfolgreiche Kampfansage gegen die Soundperformance, die diese "Bohème" einfach nicht nötig hat.