Deiner Familie entkommst du nicht

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (04.02.2020)

Iphigénie en Tauride, 02.02.2020, Zürich

Der Zürcher Publikumsliebling und ein exzellentes Ensemble machen die Neuinszenierung von Glucks «Iphigénie en Tauride» am Opernhaus zu einem philosophisch tiefgründigen Erlebnis.

Ein Riss geht durch das Weltgebäude. Es ist der Riss zwischen dem archaischen Gesetz der Götter, das unbarmherzig Rache fordert, und dem Freiheitsdrang des Einzelnen, der sich, von Vernunft oder seinem schlichten Herzen geleitet, dem eskalierenden Kreislauf aus Gewalt und Vergeltung entgegenstellt. Neuerdings geht dieser Riss – scharfkantig, grell und wild gezackt wie ein Blitz – mitten durch die Bühne des Opernhauses Zürich.

Er reisst sie förmlich entzwei, an immer neuen Stellen im Boden, in den Wänden; ohne Vorwarnung, so dass einem beim Zusehen angst und bange wird um diejenigen, die da oben so nah am Abgrund agieren. Doch der Riss bringt auch Erleuchtung: Hell und verheissungsvoll strahlt das Licht von aussen in das finstere Bühnen-Grab, worin sich die Menschen mit den Zumutungen der höheren Instanzen quälen. Ein Sprung nur – und man wäre frei; ein Sprung ins Offene und Ungewisse allerdings, der den Tod bringen kann, im besseren Fall aber vielleicht auch Versöhnung und Frieden.

Es sind die ganz grossen Themen, die Christoph Willibald Gluck in seiner Oper «Iphigénie en Tauride» verhandelt, und Zürichs Opernintendant Andreas Homoki macht die Bühne bei seiner Neuinszenierung mit beredten Sinnbildern, radikal abstrahierend, zum philosophischen Seminar. Damit das Ganze dennoch nicht im Theoretischen steckenbleibt, vielmehr durch unmittelbare Anschauung auch emotional berührt, hat er sich ausserdem eines Weltstars versichert, dem traditionell an diesem Haus die Herzen zufliegen. Das Konzept geht in beeindruckender Weise auf.

Innerliches Exil

Cecilia Bartoli hat die Titelrolle in Glucks zweiter und letzter «Iphigenien»-Oper von 1779 bereits vor fünf Jahren bei den Salzburger Pfingstfestspielen gesungen. Die damalige Inszenierung, etwas unbestimmt und zahnlos, nahm Bezug auf Aktualitäten wie das Flüchtlingselend im Mittelmeer und die Ereignisse auf der Krim – immerhin lokalisieren manche Historiker das antike Tauris ebendort. Schon 2015 wurde freilich klar: Ein derart konkreter Ansatz führt in die Sackgasse. Was an diesem Operndrama aus dem Geist des Spätklassizismus ungebrochen fasziniert, ist die Tragödie einer dysfunktionalen Familie. Und die braucht, wie Homoki richtig erkennt, weder Ort noch Zeit, bloss die denkbar profiliertesten Sänger-Darsteller.

Bartoli ist somit für die Titelpartie eine Idealbesetzung – auch deshalb, weil sie mit dieser vokal nicht allzu expansiven Rolle einen weiteren Schritt ins lyrische Charakterfach wagt und damit zugleich klug auf die Einschränkungen reagiert, die der Alterungsprozess auch für eine professionelle Stimme mit sich bringt. Der Glanz ihres Rollenbildes erwächst denn auch nicht mehr aus atemraubenden Koloraturen, sondern aus der vollendet kontrollierten Innerlichkeit ihrer fesselnden Darstellung. Ihre Iphigenie ist eine tief Traumatisierte, die das scheinbar unaufhaltsame Morden unter den Mitgliedern ihrer Sippe, der Atriden, ins Exil nach Tauris, mehr noch aber ins innere Exil getrieben hat.

Längst ist nämlich nicht mehr zu entscheiden, wer hier das Recht auf seiner Seite hat. Der geliebte Vater Agamemnon? Der wollte seine Lieblingstochter einst in höchster Gottesnot hinschlachten wie Abraham den Isaak. Die Mutter Klytämnestra? Die rächte Iphigenies (vermeintlichen) Opfertod durch heimtückischen Mord an Agamemnon – Opernfreunde kennen die Folgen aus Richard Strauss’ blutiger «Elektra». Und noch Orest, der Bruder, bleibt gefangen im fatalen Rachezwang, indem er die Mutter um des Mordes am Vater willen erschlägt – auch sein Schicksal war in Manfred Trojahns bedeutender Opernversion 2017 auf der Zürcher Bühne zu sehen.

Iphigenie selbst gilt spätestens seit Goethes nobler Schauspielfassung als die Stimme der Vernunft, ja einer fortschrittlichen Stufe der Zivilisation, die dem Töten endlich Einhalt gebietet. Bartoli und Homoki setzen in ihrer Neudeutung in Zürich ein subtiles Fragezeichen hinter diese humanistische Lesart: Nicht Iphigenies Aufbegehren gegen das Gesetz der Götter bricht hier den Kreislauf des Tötens auf, vielmehr ist es ihre bedingungslose Liebe zum Bruder, veredelt durch die Kraft, ihm den begangenen Muttermord zu vergeben.

Bezeichnenderweise wird Iphigenie ihrerseits durch diesen Akt der Selbstüberwindung in Homokis Inszenierung jedoch nicht befreit: Während Orest mit seinem Jugendfreund Pylades – der hier offenkundig auch sein Geliebter ist – schliesslich in das hereinströmende Licht am Ende des Tunnels geht, das vorher schon durch die Risse in Wänden und Boden drang, bleibt Iphigenie der Aufbruch in ein neues Leben versagt. Sie verharrt in der grabähnlichen Schwärze der nun wieder vollkommen geschlossenen Bühne (Ausstattung: Michael Levine) und zieht den Schleier vor ihr Gesicht.

Erkenntnisse

Ein irritierendes, ja geradezu niederschmetterndes Bild, das nach den ohne Pause durchgespielten gut hundert Minuten der Zürcher Aufführung lange nachklingt. Umso mehr, als Stéphane Degout (Orest) und Frédéric Antoun als sein Freund Pylades die Vision einer Befreiung und des Neubeginns zuvor mit so viel Verve über die Bühne gebracht haben. Überhaupt wirkt dieses Freundespaar glaubhaft als jugendlicher Gegenpol zur wissenden Trauer Iphigenies. Das aber, was sie weiss, entpuppt sich als die eigentliche Tragödie: Sie hat begriffen, dass man der eigenen Familie niemals entkommt. Erst recht nicht einer solchen – da mag das Licht jenseits der Bühne noch so hoffnungsvoll strahlen.

Homoki hat für diesen Schluss denn auch ein weiteres starkes Bild ersonnen: Immer wieder waren zuvor die übermächtigen Toten der Atridensippe in Gestalt von Doubles als geisterhafte Adressaten der grossen Arien-Selbstgespräche präsent gewesen. Jetzt, am Ende, übernimmt die Darstellerin der Klytämnestra (Birgitte Christensen, auch als alternierende Besetzung für die Titelrolle vorgesehen) überraschend die entscheidenden Verse der Göttin Diana, die eigentlich als klassische Dea ex Machina das unabdingbare «lieto fine» herbeiführen soll. Die Gleichsetzung mit der ermordeten Mutter macht indes deutlich, dass eine Lösung niemals von aussen kommen kann, sondern immer nur aus den Beteiligten – also den Menschen – selbst.

Bei so viel packend auf die Bühne gebrachter Philosophie könnte die Musik leicht ins Hintertreffen geraten. Doch die exzellenten Solisten und der aussergewöhnlich differenziert singende Damen- und Herrenchor des Opernhauses (von der Regie szenisch konsequent aufgeteilt) wirken dem mit grosser innerer Beteiligung entgegen. Überdies erhält Gianluca Capuano am Pult des hauseigenen Originalklang-Ensembles La Scintilla mit gezielter dramatischer und artikulatorischer Zuspitzung die Spannung aufrecht und vermeidet die marmorne Blässe, die bei weniger inspirierten Gluck-Interpretationen manchmal droht.

Das klingt mitunter etwas ruppig und nicht immer stilrein – im Gegenzug werden aber, durchaus sinnfällig, Ahnungen von frühem Beethoven, Weber, Berlioz und sogar Wagner hörbar. Sie alle werden Glucks bahnbrechenden Umgang mit offenen, sich gleichsam verflüssigenden Formen und genuin musikdramatischen Erzählweisen auf je eigene Weise fortschreiben. Mehr Erkenntnis an einem Premierenabend scheint kaum möglich.