Schattenspiele für eine Lichtgestalt

Reinmar Wagner, Aargauer Zeitung (04.02.2020)

Iphigénie en Tauride, 02.02.2020, Zürich

Eine grossartige Cecilia Bartoli sang am Sonntag im Opernhaus Zürich in der Premiere zu «Iphigénie en Tauride» von Gluck.

Sie ist wieder da, Cecilia Bartoli, fulminant und expressiv wie immer: Am Zürcher Opernhaus prägte sie mit ihrer unnachahmlichen Präsenz am Sonntag die Premiere von Glucks Oper «Iphigénie en Tauride». Und es tat ihrer Ausstrahlung nicht den geringsten Abbruch, dass die Inszenierung von Andreas Homoki sie meistens im Dunkeln stehen liess. Wenn im Zürcher Opernhaus in den vergangenen Jahren die Bühne dunkel blieb, war das ein gutes Zeichen, denken wir an den grandiosen «Macbeth» von Barrie Kosky oder an Christian Spucks Verdi-Requiem. So eindeutig ist es diesmal nicht, wenn der Hausherr Andreas Homoki eintaucht in Glucks Version der Atridensage «Iphigénie en Tauride». Tatsächlich kann einem schwarz werden vor Augen, wenn man sich mit dieser Familie beschäftigt, in der zum Festmahl Söhne geschlachtet, heimkehrende Krieger im Bad gemeuchelt oder die eigene Mutter von den Kindern mit der Doppelaxt erschlagen wird.

Regisseur Andreas Homoki misstraut dem Happy End

Rabenschwarz ist der gegen hinten ins Unendliche verlängerte Raum, der nur manchmal scharf gezackte Risse aufweist, durch die aber keine heile Aussenwelt lockt, sondern unheimlich giftiges Licht in den schwarzen Tunnel drängt und pittoreske Schattenspiele veranstaltet mit den Menschen, die hier gefangen sind. Es sind symbolhafte Bilder, die zusammen mit den wenigen, zeichenhaft gesetzten Gesten der fast immer auf den Boden niedergedrückten Menschen von schwersten Seelennöten in dieser kaputten Familie zeugen.

Zur Ouvertüre – ein selten schöner musikalischer Sturm, der mit dem inneren Sturm in Iphigeniens Seele korrespondiert – erzählt Homoki pantomimisch die unheilvolle Familiengeschichte der Atriden nach. Es ist ein Kunstgriff, der bestens funktioniert. Dass Klytämnestra sich am Ende als Diana outet, macht zwar dramaturgisch kaum Sinn, stört aber auch nicht wirklich. Eher schon, dass Homoki dem Happy End offensichtlich tief misstraut. Denn eigentlich wäre gerade diese Iphigenie eine paradigmatische Lichtgestalt: Sie ist es, die aus eigener Kraft den bösen Fluch durchbricht, der auf ihrer Familie liegt, schon bevor sie weiss, dass mit Orest ihr Bruder eines der Opfer ist. Dass Diana und die Götterwelt ihre Entscheidung am Ende gutheissen, macht sie nicht kleiner – aber schöner, jedenfalls, wenn Gluck dafür alles aufbietet, was das Orchester seiner Zeit an Jubelfarben zu bieten hat. Aber eben: Denen traute die Regie nicht.

Bei Cecilia Bartoli ist jeder gesungene Ton aufgeladen

Und Homoki verschenkte mit seiner Orgie in Schwarz noch etwas anderes: Die fast schon sprichwörtlich expressive Mimik der Bartoli. Gerade vom ausdrucksvollen Spiel ihrer Augen ist im Dämmerlicht kaum etwas auszumachen. Umso mehr verlegt sie sich auf die Möglichkeiten ihres Gesangs, spielt mit musikalischen Akzenten und vokalen Schattierungen, mit den Klangfarben ihrer nicht grossen, aber ausdrucksvollen Stimme, und virtuos mit den Möglichkeiten der Sprache: Kein Ton, der nicht irgendwie aufgeladen wäre mit einer Farbnuance oder einer Vibrato-Variante. Man könnte sich eine Iphigénie mit viel mehr Melos und Linie vorstellen, gerade weil Gluck sich sehr bewusst abgewendet hat von der Vokalartistik der Barockzeit. Aber so tickte sie noch nie, La Bartoli: Alles an ihr ist übersprudelnde Expressivität, und dafür wird sie schliesslich auf der ganzen Welt geliebt.

So liess sich auch der Orest an ihrer Seite, Stéphane Degout, von ihrer dramatischer Attitüde anstecken. Verbiegen musste er sich nicht dafür, auch der vielseitige französische Bariton ist ein Sänger, der gerne die Regionen abseits des puren Schönklangs sucht und sängerisch in die Extreme geht. So blieb es dem Pylade von Frédéric Antoun vorbehalten, geschmeidige Melodiebögen zu gestalten, wofür sich sein einnehmend warm und weich strömender Tenor auch bestens eignet.

Gleichermassen suggestiv wie souverän-gelassen führte der Italiener Gianluca Capuano durch die auf Schritt und Tritt mit reizvollen Farben und Details aufwartende Partitur von Glucks zweitletzter – und vielleicht bester Oper. Das hat Eleganz und Geschmeidigkeit, alles Kratzbürstige und Raue, das man noch vor wenigen Jahren mit historischen Instrumenten assoziierte, ist wie weggeblasen, ohne dass dabei die musikalische Dramatik je geglättet worden wäre. Einen Zacken an Präzision zulegen könnte die Originalklang-Fraktion «La Scintilla» des Zürcher Opernorchesters nach wie vor, da klafft noch eine kleine Lücke zu den Besten der Zunft. Capuano allerdings spornte die Musiker auch immer wieder an, wählte oft überaus rasche Tempi und liess eisern auch in schwelgerischen Wohlfühlmomenten nicht das geringste Nachlassen zu, was sich gerade in den vielen reizvollen Chören der Priesterinnen positiv niederschlug: Wunderschön komponiert von Gluck, aber auch wirklich wunderschön gesungen von den Zürcher Chorfrauen.