Schöner kann man über Mord nicht singen

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (04.02.2020)

Iphigénie en Tauride, 02.02.2020, Zürich

Glucks «Iphigénie en Tauride» begeistert am Zürcher Opernhaus: dankeiner grossartigen Cecilia Bartoli und Andreas Homokis radikal reduzierter Regie.

Das Orchester fetzt, der Chor jubelt, ein Triangel treibt sie alle an, und man möchte am liebsten auf die Bühne stürmen und mittun. Wenn da nicht der Text wäre: «Wir brauchen Blut.»

Willkommen in der verfluchten Welt der Atriden, willkommen in Christoph Willibald Glucks 1779 uraufgeführter Oper «Iphigénie en Tauride». Wie es hier zu- und hergeht, haben wir zu diesem Zeitpunkt bereits gesehen, Regisseur und Opernhaus-Intendant Andreas Homoki arbeitet einmal mehr mit Rückblenden. Schon während der Ouvertüre, die so freundlich beginnt und so dramatisch endet, hat Agamemnon seine Tochter Iphigénie getötet – ein Opfer war gefragt. Seine Gattin Klytämnestra hat dann ihn umgebracht, ihr Sohn Oreste wiederum hat sie erstochen. Rache muss sein, auch wenn dabei die ganze Familie draufgeht.

Aber nun lüften die Priesterinnen, die aus dem Dunkel auftauchen, ihren Schleier – und da ist Iphigénie, lebendig, gerettet von der Göttin Diana und seither in ihren Diensten. Cecilia Bartoli stellt sie dar, ach was: Sie lebt diese Rolle, sie geht auf in ihr, sie ist diese Iphigénie.

Träume und Traumata

Man hat sie ja schon oft erlebt auf dieser Bühne, wie sie rumzickt und austickt, wie sie blödelt und das herzhaft geniesst. Aber hier gibt es für einmal nichts zu lachen, ihre Partie ist eine einzige grosse Klage, und Bartoli gestaltet sie so still und stark, wie nur sie das kann. Ohne Überdramatisierung, ohne Mätzchen. Allein mit ihrer Stimme, die ihren Schmerz, ihre Sehnsucht, ihre Zweifel verrät. Und mit einer Präsenz, die einen von der ersten Sekunde an in Bann schlägt.

Homoki lässt ihr viel Raum, zum Glück. Auch speziellen Raum – Zürcher Opern- und Atridenspezialisten dürften ein kleines Déjà-vu erleben: Martin Kusej hat Richard Strauss’ «Elektra» hier einst in einem ganz ähnlichen, sich perspektivisch verengenden Schwarz spielen lassen.

Hier nun ist die Anlage noch ein bisschen radikaler. Michael Levines Bühne zeigt ihre Konturen nur, wenn sie zerbricht, wenn Franck Evin grellweisses Licht durch die Risse strahlen lässt. Fügen sich die Bruchstücke wieder zusammen, bleibt nur die Dunkelheit, die Figuren verschluckt oder freigibt. Schwarz tragen sie, wenn sie sich in der Gegenwart befinden; in den immer wieder aufbrechenden Erinnerungen dagegen sind sie weiss gekleidet und perückiert. Schlichter, klarer lässt sich nicht zeigen, wie Träume und Traumata die Realität bestimmen.

Farben gibt es nur musikalisch – aber da leuchten sie umso intensiver. Denn auch wenn es Cecilia Bartoli ist, die den Abend trägt: Die anderen haben ebenfalls einiges zu bieten. Der französische Bariton Stéphane Degout leidet als Oreste klangstark am Vatermord, neigt aber auch zu effektvollem vokalem Jähzorn. Frédéric Antoun als sein Freund Pylade verwandelt sich mit lyrischem Tenor und einer nur ganz leichten Überinterpretation des Librettos zu seinem Geliebten. Und Jean-François Lapointe gibt als König von Tauris einen sehr lauten und sehr bösen Bösen.

Brigitte Christensen schliesslich, die immer wieder als stumme Klytämnestra auftaucht, entpuppt sich zuletzt als strahlende Dea ex machina Diana: eine Luxusbesetzung, die wohl auch deshalb möglich ist, weil Bartoli nicht für alle Aufführungen zur Verfügung steht; Christensen übernimmt dann ihre Vertretung.

Der Dirigent Gianluca Capuano dagegen bleibt dabei, und das ist gut so. Er hat ein sicheres Gespür für Glucks Musik und ihre inspirierte Direktheit. Zusammen mit der Philharmonia Zürich verleiht er dem Drama ganz unterschiedliche Facetten: zornige, verzweifelte, licht-melancholische, in Todessehnsucht versinkende.

Frühe Minimal Music

Immer wieder entdeckt er dabei Effekte, die Gluck schon fast als frühen Erfinder der Minimal Music präsentieren: Wenn etwa das Orchester zu Orestes Ruhe-Arie den Herzschlag gibt, gerät man auch als Zuhörerin fast in Trance. Und die klangliche Spannung lässt selbst dann nicht nach, wenn das knapp zwei Stunden kurze Stück in der zweiten Hälfte länglich wird, weil es das Wiedererkennen von Iphigénie und Oreste immer noch weiter hinauszögert.

Für diese Spannung sorgt neben dem Orchester auch der von Janko Kastelic vorbereitete Chor: Er hat nicht nur mit seinem Ruf nach Blut einen grossen Auftritt, sondern auch in jenem bangen Moment, bevor Iphigénie ihren noch unerkannten Bruder töten soll. Alles verbindet sich hier, der Schmerz und die Hoffnung, die dissonante Reibung und ihre Auflösung, der Klang und das Bild. Schöner kann man einen geplanten Mord nicht besingen.