Elisabeth Schwind, Südkurier (05.02.2020)
Wie sich Traumata über Generationen weitervererben, davon erzählt Christoph Willibald Gluck in seiner Oper „Iphigénie en Tauride“. Am Opernhaus Zürich ist nun die Star-Sopranistin Cecilia Bartoli in der Titelrolle zu erleben
Iphigenie hat keine Lust mehr zu morden. Als Priesterin der Diana auf Tauris ist sie gezwungen, jeden Fremden, der die Insel betritt, zu opfern. Der Herrscher Thaos will das so, weil ihm ein Orakel geweissagt hat, ein Fremder werde ihn eines Tages töten. Doch Iphigenie sieht nicht mehr ein, wieso man Götter mit Menschenopfern besänftigen sollte. Und das hat einen guten Grund. Er liegt in ihrer eigenen Familiengeschichte.
Opernreformer des Spätbarock
Einst hatte ihr Vater Agamemnon sie selbst auf dem Altar geopfert. Dass sie im letzten Moment von der Göttin Diana gerettet und nach Tauris gebracht wurde, weiß niemand. Sie gilt als tot. Weswegen ihre Mutter Klytämnestra aus Rache ihren Mann Agamemnon umbringt. Daraufhin ermordet der Sohn Orest seine Mutter, um den Vater zu rächen. Die antike Mythologie erzählt diese Geschichte, in der ein Mord mit dem nächsten gesühnt wird, als Geschichte eines Fluches, der sich innerhalb der Familie weitervererbt. Christoph Willibald Gluck hat aus dem Stoff eine Oper gemacht und ist damit als Opernreformer des Spätbarock in die Geschichte eingegangen.
Gluck konzentriert sich dabei auf Iphigenie, die in düsteren Gedanken an ihre Familie auf Tauris lebt, und die Begegnung mit Orest, der, von Schuldgefühlen getrieben, unerkannt auf Tauris strandet und nun von Iphigenie wie alle Fremden getötet werden soll - womit sich der Familienfluch fortsetzen würde. Schließlich aber erkennen sich die Geschwister, Iphigenie verweigert den Mord - der Fluch ist gebannt.
Für die Titelrolle ist nun die Star-Sopranistin Cecilia Bartoli an das Opernhaus Zürich zurückgekehrt, wo sie erstmals mit dem Intendanten Andreas Homoki eine Neuproduktion erarbeitet hat. Und sie füllt diese Rolle fantastisch aus.
Innenschau der Figuren
Die Iphigenie erweist sich als ideal für die Italienerin, die mit zunehmendem Alter nicht allein auf die Schauwerte virtuoser Koloraturkunst setzt, sondern auf die Kraft des musikdramatischen Ausdrucks. Und Gluck - darin liegt das Reformerische seiner Musik - legt den Schwerpunkt auf die Innenschau seiner Figuren und auf ihre tiefe Verzweiflung. Gluck war ein Zeitgenosse des Bach-Sohns Carl Philipp Emanuel, und wie in dessen Musik hinterlässt auch bei Gluck die Epoche der Empfindsamkeit ihre Spuren. Sie zeichnet auch Bartolis Iphigenie aus. Ihr Vibrato mag im Forte eine aufdringliche Note haben, ihre Pianos sind dafür umso berührender und voller Innigkeit. Stéphane Degout als Orest und Frédéric Antoun als dessen Freund Pylades sind ideale Gesangspartner an ihrer Seite.
Es gibt kein Entrinnen
Andreas Homoki zeigt Tauris als zeitlosen, aber düsteren Ort. Nur die entfernt ansRokoko angelehnten Kostüme erinnern an die Entstehungszeit der Musik (Ausstattung: Michael Levine). Das Bühnenbild - ein schwarzer Guckkasten mit enormer Tiefe - setzt auf Abstraktion. Aus dem Dunkel tauchen die ebenfalls dunkel gekleideten Figuren wie aus dem Nichts auf und verschwinden auch wieder darin. Doch ein Entrinnen daraus gibt es ebensowenig wie aus der eigenen dunklen Familiengeschichte. Das zeigt sich auch darin, dass Iphigenie am Schluss nicht mit Orest nach Griechenland flieht, sondern auf Tauris bleibt. Die Vergangenheit lässt sie nicht los.
Die abstrakte, fast schon sterile, aber auch sehr ästhetische Inszenierung lässt Bartoli viel Gestaltungsfreiheit, ohne sie als Diva zu überhöhen. Ihre Interpretation, für die mit Gianluca Capuano ein ihr bestens vertrauter Dirigent am Pult des Orchestra La Scintilla steht, bleibt freilich das Zentrum dieses Opernabends.