Arabella tanzt auf dem Vulkan

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (03.03.2020)

Arabella, 01.03.2020, Zürich

Die Neuproduktion von Richard Strauss' Oper steht unter keinem guten Stern. Erkrankungen in letzter Minute und eine unentschlossene Regie bereiten dem Publikum ein Wechselbad.

Es gebe ja leider auch noch «konventionelle Viren», verkündete Intendant Andreas Homoki mit sorgenvoll-ironischer Miene und einem gerüttelt Mass Galgenhumor zu Beginn der jüngsten Premiere am Opernhaus Zürich – durchaus zur Erheiterung des wagemutigen Publikums, das sich am Sonntagabend, der «besonderen Lage» zum Trotz, im Grossen Haus eingefunden hatte. Dessen regulär gut 1100 Plätze hatte die Theaterleitung nach dem Erlass des Bundesrates auf rund 900 Sitze reduziert, indem man Sponsoren, Hausmitglieder und Gäste kurzerhand ausgeladen und auf bessere Zeiten vertröstet hatte. Doch kaum war die ärgste Corona-Gefahr im Musentempel gebannt, schlug heimtückisch eine stinknormale Grippe zu und setzte gleich zwei Beteiligte ausser Gefecht.

Dass davon auch die vorgesehene Darstellerin der Titelrolle, Julia Kleiter, betroffen war, verschärfte die Situation für das Opernhaus. Schon unter normalen Bedingungen wäre eine solche Absage der Hauptfigur nur einen Tag vor der Premiere eine Ausnahmesituation. Seltsamerweise passte die Notlösung mit einer kurzfristig in die Produktion eingewiesenen Einspringerin zum brüchigen Charakter dieser Neuinszenierung, die den Zuschauern wohl auch ohne Krankheitsfälle ein permanentes Wechselbad der Gefühle bereitet hätte.

Werkprobleme

Ein Teil des Problems liegt dabei in dem gespielten Werk selbst: Richard Strauss’ Oper «Arabella» ist – entgegen dem betont harmlosen Anstrich, den ihr die Bezeichnung «Lyrische Komödie» verleiht – eines der künstlerisch wie wirkungsgeschichtlich heikelsten Werke des Repertoires. Das beginnt mit der Idee des Komponisten und seines Textdichters Hugo von Hofmannsthal, mit dem Werk eine Art Meta-Oper oder «Sequel» zum gemeinsamen Welterfolg «Der Rosenkavalier» zu schreiben – man könnte es auch einen in die Spätzeit Kakaniens und der Wiener Operettenstadl-Aristokratie transferierten Wiederaufguss nennen.

Dies allein war zur Entstehungszeit Ende der brodelnden 1920er Jahre schon hoffnungslos anachronistisch. Zu allem Überdruss starb Hofmannsthal Mitte Juli 1929 während der Arbeit und hinterliess Strauss ein Libretto, in dem einige der lebensklügsten Sentenzen der Operngeschichte neben Holprigem und ungelösten dramaturgischen Problemen stehen, vor allem im arg boulevardesken Qui pro quo des dritten Aufzugs. Und als wäre dies noch nicht genug der Hypotheken, wird die Uraufführung der «Arabella», die am 1. Juli 1933 in der Dresdner Semperoper stattfand, zum ersten kulturellen Grossereignis des soeben etablierten NS-Staats aufgebauscht.

An diesem Punkt setzt die Zürcher Inszenierung von Robert Carsen an, der die Handlung in das sozial und politisch gründlich derangierte Wien des Jahres 1938 verlegt, kurz nach dem sogenannten «Anschluss» Österreichs an das «Dritte Reich». Folglich geben in dem verwohnten Hotel, in dem der spielsüchtige Graf Waldner – eine gelungene Charakterstudie des Bassisten Michael Hauenstein – mit seiner Frau Adelaide und den Töchtern Arabella und Zdenka gestrandet ist, jetzt die neuen Herren zackig den Ton an.

Auch Arabellas drei Verehrer, die Grafen Elemer (Dean Power als Einspringer für den ebenfalls erkrankten Paul Curievici), Dominik (Yuriy Hadzetskyy) und Lamoral (Daniel Miroslaw), erscheinen in Uniform und zeitweilig mit Hakenkreuzbinde am Oberarm. In der Ballszene des zweiten Akts gibt es weitere bühnenhohe Hakenkreuzbanner, ein vom Choreografen Philippe Giraudeau frech in Chaplin-Manier überzeichnetes Nazi-Ballett (mit reflexhaft emporschnellenden rechten Armen) sowie eine brutale, aber vorsichtshalber im Hintergrund versteckte Schlusswendung, in der die braunen Machthaber ihr wahres Gesicht zeigen.

Rollenprofile

Das ist nicht falsch, stösst vielleicht manchen überhaupt erst auf den fragwürdigen Hintergrund des Werks – und bleibt doch zahnlos, als demonstrativ ausgestellte Provokation so abgestanden wie wohlfeil. Umso mehr, als die Besten unter den zeitgenössischen Musiktheaterregisseuren längst originellere Wege gefunden haben, die Handlungs- und die Entstehungszeit eines Stückes beispielsweise in parallel geführten Ebenen auf der Bühne zu reflektieren, ohne dass es ständig zu Brüchen in den Charakteren kommt.

Hier ist davon namentlich die Rolle des Mandryka betroffen, den Hofmannsthal feinsinnig als reichen, vom Stadtleben überforderten Provinzler gezeichnet hat. Bei Carsen wirkt er eher wie ein protziger Grossgrundbesitzer, der sich bei erster Gelegenheit als Opportunist – wie Strauss übrigens selbst – dem neuen Regime andienen dürfte. Josef Wagner, eigentlich stimmlich zum Sympathieträger prädestiniert, kämpft den ganzen Abend mit diesem latent unsympathischen Rollenbild – und leider immer wieder auch mit den Klangmassen, die Generalmusikdirektor Fabio Luisi vor ihm aus dem Orchestergraben dringen lässt.

Rücksichtsvoller, ja geradezu behutsam trägt Luisi die tapfere Premierenretterin Astrid Kessler durch die anspruchsvolle Partie der Arabella. Doch auch bei ihr bleibt das Rollenporträt, sicher mitbedingt durch die kurze Einweisungzeit, seltsam unscharf. Einmal ist sie der unbestimmt in alle Männer verliebte Backfisch, der widerspenstig Abschied von der «Mädchenzeit» nehmen muss; ein andermal ist sie die in Gefühlsdingen fast schon übermenschlich edle und reife Frau, die nach allem «Leid und Freud und Wehtun und Verzeihn» die Grösse findet zur finalen Versöhnung.

Der im Libretto angelegte Widerspruch bleibt hier mangels einer klaren Charakterzeichnung und -entwicklung weitgehend ungelöst. Stimmlich hat Kessler, nach vorsichtigem Beginn, etliche grosse Momente, besonders im anrührenden Schlussmonolog «Mein Elemer!» des ersten Aufzugs, dessen Text Hofmannsthal wenige Tage vor seinem tödlichen Schlaganfall an Strauss übersandte und in dem Arabella auf so zartfühlende Weise ihr Herz offenbart. Kessler gewinnt hierbei durch Natürlichkeit und Sensibilität; zur Wahrheit gehört indes auch, dass punkto Farbigkeit und Leuchtkraft ihrer Stimme doch ein erheblicher Abstand zu überragenden Interpretinnen der Rolle wie Lisa della Casa oder Julia Varady spürbar wird.

Ideal und Idol

Diesem Strauss-Ideal einer vor allem im hohen Register strahlenden und gleichsam von innen heraus leuchtenden Stimme kommen Valentina Farcas als Zdenka und der technisch beeindruckend souveräne Daniel Behle als Matteo deutlich näher. Wie leicht und fein kontrolliert Farcas etwa die Extremhöhe im berühmten Duett mit Arabella «Aber der Richtige, wenn’s einen gibt für mich auf dieser Welt» bewältigt! Allerdings vermag auch Farcas die merkwürdige Travestie-Doppelrolle von Zdenka/Zdenko, gleichsam eine Brechung des klassischen Hosenrollenprinzips à la Cherubino und Octavian, nicht glaubhaft zu machen; auch weil Carsens tendenziell filmrealistischer Regieansatz das implizite Gender-Spiel letztlich auf eine schlichte Verkleidungs- und Verwechslungsfarce herunterbricht.

Wie schon bei «Aber der Richtige» schlägt Luisi auch beim zweiten Wunschkonzert-Evergreen der Partitur, dem Duett Arabella-Mandryka «Und du wirst mein Gebieter sein», erstaunlich fliessende, fast drängende Tempi an. Er hilft damit den Sängern und legt zugleich den Ursprung der Melodie im «Vedrai carino» aus Mozarts «Don Giovanni» offen. Die Rückbesinnung des späten Strauss auf sein Idol Mozart und die Tradition der deutschen Spieloper wird beispielhaft deutlich. Der Preis dafür ist eine nervöse Unruhe sowohl auf der Bühne wie im Graben. Verständlich, zumal unter den gegebenen Umständen – doch zu einem schlüssigen Ganzen, geschweige denn zu einem grossen Strauss-Abend, fügt sich dies alles noch nicht.