Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (22.09.2020)
Die Oper Zürich eröffnet die Saison mit «Boris Godunow»
Mitten in der Pandemie zeigt das Opernhaus eines der aufwendigsten Werke des Repertoires. Musikalisch und szenisch ist das ein Kraftakt sondergleichen. Aber er lohnt die Mühen.
Das Buch redet. Es spricht zu uns. Aber nicht so, wie ein gutes Buch dies in der Regel tut: nobel-schweigsam seine Wahrheiten verkündend. Dieses Buch plaudert, es quatscht. Und allem Anschein nach kann es buchstäblich die Klappe nicht halten. Auf und zu, auf und zu gehen die Buchdeckel. Das sieht surreal aus und urkomisch, erinnert es doch an diese allerliebste giftgrüne Handpuppe aus der «Muppet Show», an Kermit the Frog. Ein bisschen aber auch an Donald Trump.
Bald schon öffnet ein schmallippiges zweites Buch seine Deckel, ein abgegriffener Foliant mischt sich ein, und flugs plappert ein ganzer Chor von überaus beredten Büchern auf die verdutzten Zuschauer ein. Beim Stichwort «Chor» aber dämmert es jedem informierten Zeitgenossen: Barrie Kosky, der Regisseur der Zürcher Neuinszenierung von Modest Mussorgskys «Boris Godunow», stösst uns mit dem drolligen Sinnbild auf das geheime Hauptthema dieses Abends. Vieles ist da anders als sonst.
Hinaus zum Atemholen
Dass diese Eröffnungspremiere überhaupt stattfindet, ist bemerkenswert. Die Umstände sind es noch mehr. Zum einen wegen der gut neunhundert Zuschauer, die sich – mit offiziellem Segen vom Gesundheitsamt – recht dicht in den Sitzreihen des Opernhauses drängen. Mit dieser grosszügigen Zahl, immerhin drei Viertel der Vollauslastung, agiert man in Zürich deutlich mutiger (man darf auch sagen: bedenkenloser) als etwa in Deutschland, wo zurzeit selbst grosse Institutionen nur vor einigen hundert Besuchern spielen dürfen.
Möglich wird dies in Zürich nur durch Contact-Tracing, die Hinterlegung der persönlichen Daten beim Kartenkauf für den Fall der Fälle, sowie eine strenge Maskenpflicht. Ihr müssen sich alle, auch die Mitarbeiter hinter den Kulissen, während der gesamten Aufführung tapfer unterwerfen, also rund fünf Stunden lang. Befreit ist man davon nur ausserhalb des Hauses: während der beiden Pausen, in denen denn auch alles zum Atemholen hinaus auf den Sechseläutenplatz stürmt. Zum Glück scheint dort die Sonne – ob das Modell für die Wintermonate taugt, wird sich weisen.
Internationale Beachtung aber erfährt diese Premiere vor allem wegen des gespielten Werks. Immerhin haben die Salzburger Festspiele und die Hamburgische Staatsoper ihre geplanten Neuproduktionen wegen der Corona-Lage abgesagt. Mussorgskys Historiendrama «Boris Godunow» gilt schliesslich als die Choroper schlechthin, da in ihr das russische Volk eine mindestens so tragende Rolle spielt wie der titelgebende Zar. Chorgesang in dieser Grössenordnung ist derzeit jedoch kaum möglich, schon gar nicht verbunden mit szenischer Interaktion. Überdies verlangt das Werk ein entsprechend umfangreiches Orchester. Wie aber sollte das gehen unter den Bedingungen einer Pandemie?
Zuspielung in Echtzeit
Für das Problem hat man in Zürich eine modellhafte Lösung erdacht, die vielerorts Schule machen dürfte – wenigstens dort, wo man über die nötigen Mittel verfügt. Chor und Orchester, durch Mindestabstände und zusätzlich durch Plexiglaswände voneinander getrennt, musizieren nicht im Opernhaus, sondern im nahe gelegenen grossen Probensaal am Kreuzplatz. Der dort live unter der Leitung des Dirigenten Kirill Karabits produzierte Sound wird in Echtzeit via Glasfaserkabel übertragen und per Raumklanganlage sowie durch ein knappes Dutzend Lautsprecher im sonst leeren Graben auf die Bühne und in den Zuschauerraum projiziert.
Tönt aufwendig und kompliziert, und das ist es wegen vieler Detailfragen auch. Aber es funktioniert – über weite Strecken sogar sehr überzeugend. Namentlich in den zahlreichen Dialogpassagen des Werks mischen sich die von den Protagonisten auf der Bühne produzierten Töne organisch mit dem zugespielten Orchesterklang. Dieser umhüllt den Gesang stärker als gewohnt, nimmt ihn gleichsam in sich auf, anstatt ihn zu tragen. Das macht die akustische Verortung der Stimmen und Instrumente zuweilen schwierig; auch stechen manchmal einzelne Gruppen etwas heraus. Im Ganzen aber ähnelt die Wirkung dem Klangbild von Open-Air-Veranstaltungen wie den Bregenzer Festspielen (die dem Opernhaus technische Anregungen gaben) – mit dem Vorzug, dass die Gesangsstimmen in Zürich nicht verstärkt werden müssen.
Dies verhindert auch den Eindruck von Künstlichkeit und Distanz, der bei Freiluftaufführungen mit weniger aufwendiger Soundtechnik leicht entstehen kann. Ausgerechnet bei den Chorszenen geschieht allerdings genau dies. Der kraftvolle, ja stellenweise geradezu frenetisch entfesselte Gesang des noch um Zuzüger aufgestockten Hauschores (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) verschwindet eigenartig matt hinter dem Klang des Orchesters. Hier stimmt die Abmischung nicht, schmerzhaft zumal in der Krönungsszene, in der die gesamte Musik vom völlig übersteuerten Getöse der «Zar-kolokol», der gewaltigen Zarenglocke im Kreml, überdröhnt wird.
Dieses Monstrum, das in Wahrheit zerbrochen ist und nie geläutet hat, bekommt im eindrucksvollen Bühnenbild von Rufus Didwiszus auch szenisch seinen Auftritt: als eine Art kathartische Abrissbirne. Sie begräbt am Schluss den verrückt gewordenen Zaren Boris unter sich; mehr noch aber zermalmt sie alle die schriftlichen Berichte und Legenden über dessen angeblichen Mord am rechtmässigen Thronfolger Dmitri. Womit wir wieder bei Kermit und den sprechenden Büchern wären.
Fakten und Fake
Barrie Kosky hat nämlich aus der Not eine Regie-Tugend gemacht und zeigt anstelle des ins Off verbannten Chorvolks eine mindestens ebenso vielstimmige Bibliothek. Deren verstaubte Bücher beginnen zu einem Studenten (Spencer Lang) zu reden, der sich bald immer tiefer in das Geschehen hineinziehen lässt. Das bringt sein Weltbild arg ins Wanken, denn jede Quelle in dem gräulichen Archiv verkündet ihre eigene Wahrheit. Und wo die Fakten einmal nicht genehm sind, arbeitet mancher kurzerhand mit Fake-News.
Zum Beispiel der junge Grigori (Edgaras Montvidas), der von dem Schreiber Pimen (Brindley Sherratt) so gegen den Zaren aufgehetzt wird, dass er sich selbst als der wundersam gerettete Zarewitsch Dmitri ausgibt und Boris den Thron streitig macht. Da kann man leibhaftig beim Entstehen einer Legende zuschauen, und alle die «Influencer» avant la lettre machen ihre Sache derart gut, dass man auch als Betrachter bald nicht mehr weiss, wem hier zu trauen ist.
Zwischendurch möchte das Gefühl, das niemals irrt, aber selten recht hat, sich durchaus dem seelisch labilen Boris zuwenden. Zumal Michael Volle diesen Kampf eines Menschen mit ebenjener «Wahrheit», die ihn nach und nach vernichtet, so glaubhaft, so stimmstark und berührend verkörpert, dass es kein Entrinnen gibt. Wie viel Zärtlichkeit spricht aus den Szenen mit dem kleinen Fjodor (Mika Mainone), seinem – wie er ahnt – bald todgeweihten Sohn. Welche tragische Grösse setzt Volles Boris dem Intriganten Schuiski (John Daszak) entgegen, der es mit seiner politischen Wendigkeit einst selbst zur Zarenwürde bringen wird.
Neben Volles differenziertem Charakterporträt, übrigens seinem Debüt in der Rolle, wirkt die Gegenseite keinen Deut schwächer. Gegen einen Strippenzieher wie Johannes Martin Kränzle als Jesuit Rangoni hätte wohl kein Herrscher eine Chance. Er verspeist lüstern-vielsagend zwei Sahnetörtchen, während der falsche Dmitri, gründlich von ihm indoktriniert, und dessen goldblonde Flamme Marina (Oksana Volkova) sich feurig lieben. Freilich bloss hinter der Bühne, denn in Corona-Zeiten kann man körperliche Nähe nicht zeigen – Kränzles und Koskys ironisches Spiel mit unserer Einbildungskraft setzt der Aufführung hier, im nachkomponierten «Polenakt», dem musikalischen Höhepunkt des Stücks, selbst ein Sahnehäubchen auf.
Wen wundert es da noch, dass unser Student im bunten Wollpullover sich zusehends verirrt und verwirrt? Einmal identifiziert er sich mit Boris, dann wieder mit dessen listenreichen Gegnern. Erst als er am Rande des Wahnsinns alle gräulichen Traktate samt den Einflüsterern unter der Zarenglocke entsorgt, ist er frei, seine eigene Sicht der Dinge zu entwickeln. Als Erkenntnis aus diesem Crashkurs in Pluralismus bleibt ihm, dem modernen Gottesnarren mit der Kopeke, nur eine schlichte Weisheit. Mit ihr beginnt und schliesst die Aufführung: «Weine, weine, russisches Volk!»