Bernd Künzig, BR Klassik (21.09.2020)
Das Opernhaus in Zürich startet die neue Spielzeit mit einer veritablen Großproduktion. Anders als die meisten Häuser in Deutschland setzt man nicht auf Kleinformatiges, Eingekürztes und Bearbeitetes. In Zürich feierte also am Sonntag Modest Mussorgskijs Oper "Boris Godunow" in der vollständigen Fassung mit vier Stunden Dauer und zwei Pausen Premiere. Eine einschränkende Bedingung des Hygienekonzepts gab es allerdings: Chor und Orchester wurden aus dem Opernhaus verbannt und von der Probebühne über eine akustische Anlage ins Haus zugespielt. Eine große Herausforderung auch für die Regie.
Von einer Playback-Oper kann bei Modest Mussorgskijs "Boris Godunow" am Opernhaus Zürich keinesfalls die Rede sein. Wenngleich die körperliche Präsenz von Chor und Orchester fehlt, die akustische ist phänomenal und die Übertragung von der einen Kilometer entfernten Probebühne funktioniert. Für die Herstellung der Balance mit den Solisten auf der Bühne sorgt nicht allein der Dirigent Kirill Karabits, sondern auch der verantwortliche Tonmeister Oleg Surgutschow. Er ist der Co-Dirigent dieses außergewöhnlichen Unterfangens.
Geschichte zwischen Bücherstapeln
Der Regie von Barrie Kosky fehlt der Chor auf der Bühne nicht unbedingt. Rufus Didwiszus hat im ersten Teil ein gigantisches Labyrinth mit verschiebbaren Regalen und Ablagen für Bücher und Akten gebaut. Hier beginnt sich die Historie um den Aufstieg und Fall des Zaren Boris Godunow mitzuteilen. Die Buchdeckel klappen sich auf und zu wie bei einem Puppenspielertrick. Das symbolisiert den Chor aus tausendfachen Stimmen der Geschichte. Kosky erzählt die Perspektive eines jungen Archivangestellten. Ihm erscheinen diese Stimmen wie leibhafte Gespenster der Historie. Geschichte als Alptraum. Das ergibt durchaus Sinn, denn nach dem Prolog mit der Krönung des Zaren folgt der Kloster-Chronist Pimen, der auf der Szene die Geschichte dieses Zaren schreibt. Am Ende bringt er ihm sogar den Tod mit der Erzählung von den sich am Grab des Zarewitsch ereignenden Wundern. Aber es ist auch der Blick auf die russische und sowjetische Geschichte, deren Stimmen zum Teil noch immer ungehört in den Archiven lagern. Einige von ihnen lässt Mussorgskij in seiner Oper klingen.
Barrie Kosky inszeniert ohne Kompromisse
Den in Polen spielenden zweiten Teil verortet Kosky im Vorzimmer des Archivs. Im goldenen Prachtraum geht die Intrige des infernalischen Jesuiten Rangoni auf: Der aus dem Kloster entflohene und sich als falscher Zarewitsch ausgebende Grigori tut sich mit der Magnatentochter Marina zusammen und fällt zum Sturz des Boris in Russland ein. Der letzte Teil findet im Glockenturm statt. Er gehört allein dem Lehrling der Geschichte, der durch ihre Gespenster in den Wahnsinn getrieben wird, sich durch den Tod des Boris und den apokalyptischen Alptraum der abschließenden Revolutionsszene in den Jurodiwy, den Gottesnarren verwandelt. Er kann nur noch über das Schicksal des russischen Volkes weinen. Spencer Lang spielt ihn mit beeindruckender Dauerpräsenz und vokaler Anrührung in der kurzen Schlusspartie. Hier wird einer durch Geschichte aufgerieben. Ohne platte Anspielungen auf Aktualität könnte diese so bildmächtige Inszenierung kaum aktueller sein. Ein coronabedingter Kompromiss ist derartige Klarsichtigkeit sicher nicht.
Exzellente Besetzung
John Daszak als Schuiski und Johannes Matin Kränzle als Jesuit Rangoni auf russischer und polnischer Seite sind stimmlich und darstellerisch die abgefeimtesten Intriganten seit langem. Zynische Diaboliker einer Machtgeschichte. Der Pimen von Brindley Sherratt gibt den stimmgewaltigen Verkünder von Historie. Edgaras Montvidas als Grigori und die Marina von Oksana Volkova bilden ein hervorragendes Zweckpaar und akzentuieren die nötige Doppelbödigkeit ihres scheinheiligen Liebesgeturtels. Alle anderen Rollen des üppigen Geschichtspanoramas sind exzellent besetzt.
Überragend: Michael Volle in der Titelpartie
Kirill Karabits leuchtet Mussorgskijs geniale Partitur bis in die letzten Winkel aus. Bei gemäßigtem Tempo gibt es hier bislang ungehörte Stellen, die endgültig das dumme Vorurteil vom Dilettanten Mussorgskij widerlegen. Der Abend bedeutet aber vor allem den Triumph des überragenden Michael Volle mit seinem Debüt in der Titelpartie. Er ist ein Bariton und nicht der gewöhnlich mit einem schwarzen Bass besetzte Boris. Die hellere Stimmlage rückt den Zaren menschlich näher, entfernt ihn von jener Unnahbarkeit der sonoren Tiefe. Und genau damit triumphiert Michael Volle stimmlich wie darstellerisch und öffnet neue Perspektiven.