Ohne Sünde keine Macht

Kerstin Holm, FAZ (23.09.2020)

Boris Godunow, 20.09.2020, Zürich

Barrie Kosky inszeniert Modest Mussorgskis „Boris Godunow“ als Drama um Macht und Manipulation im Labyrinth des Wissens. Und das mit großem Chor und vollbesetztem Orchester – dank luxuriöser Tontechnik und einem ungewöhnlichen Hygienekonzept.

Glückliche Schweiz: Während deutsche Musiktheater Stücke mit kleiner Besetzung ins Repertoire nehmen oder Orchester- und Chorsätze kammermusikalisch ausdünnen, um Hygieneabstandsregeln einhalten zu können, startet das Opernhaus Zürich die Saison mit einer opulenten Produktion von Modest Mussorgskis „Boris Godunow“, und zwar in der erweiterten Fassung von 1872 mit dem in jüngster Zeit oft weggelassenen Polenakt, großem Chor und vollem Orchester.

Nur dass diese nicht im Saal musizieren, sondern per Livestream aus der etwa einen Kilometer entfernten Probebühne erklingen, wo alle Abstände eingehalten werden können. Eine lichtgeschwinde Glasfaserverbindung, Tonmischtechnik vom Feinsten und neunzig im Saal verteilte Lautsprecher sorgen für einen überwältigenden Raumklang. Und mit einer nur um ein Fünftel auf neunhundert reduzierten Zuschauerzahl kommt, zumal bei dichtbesetzten Parkettreihen – wobei während der gesamten Vorstellung Maskenpflicht besteht –, an diesem Vierstundenabend mit zwei Pausen tatsächlich so etwas wie Theaterstimmung auf.

Schuldhafter Machterwerb?

Der Regisseur Barrie Kosky versucht, die pandemiebedingte Abwesenheit des singenden Kollektivs auf der Bühne dramaturgisch zu nutzen. Mussorgskis Szenenfolge über das Interregnum am Ausgang des russischen Mittelalters beginnt bei ihm in einer verstaubten Riesenbibliothek, die einander misstrauenden Protagonisten des Epos um Macht und Manipulation sind wie so mancher Homeoffice-Geschädigte Gefangene in einem undurchdringlichen Informationskokon. Und als wäre das der aktuellen Bezüge noch nicht genug, fällt die Premiere in die Zeit der Herrscherlegitimationskrise in Belarus, die die russisch-polnische Erbfehde frisch befeuert.

Boris Godunow (1552 bis 1605), der als Opritschnik-Leibgardist Iwans des Schrecklichen zu dessen engstem Kreis gehörte, konnte Zar werden, weil Iwans Sohn Dmitri aus siebenter Ehe als Kind umgekommen war. Gerüchten zufolge hatte Godunow Dmitri ermorden lassen, das glaubten auch Alexander Puschkin, auf dessen Drama Mussorgski sich stützte, und Iwan Karamsin, dessen Geschichtsbild Puschkin folgte, allerdings ist es nicht belegt. Mussorgski macht das tote Kind zu Boris’ Obsession, lässt ihn aber auch sagen, die Leute hielten ihn für alles verantwortlich; ob es nicht symbolisch für schuldhaften Machterwerb steht, bleibt offen.

Im vormodernen Maschinenraum der Meinungen

Für Systemstabilität, das macht Kosky deutlich, bedarf es der Autorität kanonischer Texte. Aufs Kommando eines Polizeioffiziers vollführen die Regalwände einen Reigentanz, und zum pflichtschuldigen Huldigungsgeheul des Volkes (präzis und zugleich voll elementarer Kraft: der Chor unter Ernst Raffelsberger) öffnen und schließen sich die auf Lesepulte gestapelten Bücher wie die Plüschkiefer der Muppet-Show-Helden.

Der großartige Bariton Michael Volle, der Hans Sachs von Koskys Bayreuther „Meistersingern“, erscheint mit seinem altrussischen Goldornat (die schön angeschmuddelten Retro-Kostüme stammen von Klaus Bruns) im vormodernen Maschinenraum der Meinungen als Atavismus. Der stimmlich ungeheuer wandelbare, dabei natürlich idiomatisch singende Volle gibt einen rezitativisch aufgewühlten, ja nervösen Boris: Goldbraun volltönende Nachdenklichkeit schlägt jäh um in schwarz funkelnde Zornesblitze, in den Familienszenen klingt er zärtlich transparent, in den Gewissensmonologen plötzlich fahl und expressiv.

Tragödie einer bildungsfernen Bevölkerung

Boris’ monastischen Gegenspieler Pimen verkörpert der agile, diktionsstarke Bass Brindley Sherratt als bebrillten postsowjetischen Intelligenzler, der seine Chronik als Enthüllungsschrift verfasst. Pimen, der ebenfalls Mitstreiter Iwans des Schrecklichen war, lobt dessen Frömmigkeit und lässt durch sein Werk das Gespenst des blutverschmierten Thronfolgers auferstehen, das Pimen an der Hand führt und wie er (falsche?) Dokumente entsorgt.

Mussorgskis Musikdrama, zumal mit der von ihm hinzuerfundenen finalen Anarchieszene beim Wald von Kromy, schildert auch die Tragödie einer bildungsfernen Bevölkerung, die leidet, zur Rebellion aufgestachelt wird, aber sich nicht zügeln kann. Schlüssig daher, dass die Regie das abwesende Chorvolk einerseits durch identisch maskierte Ensembledarsteller als gesichtsloses Kollektivwesen vertreten lässt, aber auch durch den Gottesnarren (mit lichtvollem Tenor und berückendem Schauspiel: Spencer Lang), dessen Schlussklage, die er schon vor Beginn a cappella anstimmt, als Klammer dient und der als überall mitmachendes großes Kind durch die Szenen geistert.

Manipulator der Manipulatoren

Die polnische Adelsgesellschaft, in der der Thronprätendent als falscher Dimitri (mit metallischer Hitze: Edgaras Montvidas) Unterstützung für seinen Feldzug findet, versetzt mit ihrer Polonaisen- und Mazurkaseligkeit in ein Goldgemach, wo die schon durch ihre Flittergoldrobe Ehrgeiz signalisierende Marina Mnischek (mit Herrscherinnenmezzo: die Belarussin Oksana Volkova) Eroberungspläne schmiedet. Der von ihr geblendete Hochstapler muss in der erotischen Duellszene erst lernen, sich durch auftrumpfende Töne diese Raubkatze gefügig zu machen.

Als Manipulator der Manipulatoren lässt Mussorgski noch die von Puschkin nicht erwähnte historische Figur des Jesuiten Claudio Rangoni auftreten (mit maliziösem Schmelz: Johannes Martin Kränzle), ein Stratege bei der polnischen Intervention in Russland.

Die dort anbrechende Zeit des Machtvakuums veranschaulicht die leere Bühne, wo unter einer Schicksalsglocke der Reihe nach Zar Boris, seine Gegenspieler und die letzten Bücher in den Theaterorkus stürzen. Der im Haus nur auf dem Bildschirm anwesende Kirill Karabits dirigiert die Partitur in der Originalorchestrierung Mussorgskis in maßvollem Tempo, bringt sie durch dynamische Formung und die herbe Klangfarbigkeit jedoch plastisch zum Sprechen. Das Publikum jubelt. Hoffentlich bewährt sich das Zürcher Hygienekonzept!