Die witzigste Szene hat man dem Virus zu verdanken

Susanne Kübler, Tages Anzeiger (22.09.2020)

Boris Godunow, 20.09.2020, Zürich

Applaus für die Sänger, für die Regie – und vor allem für das Orchester und den Chor, die live aus dem Probelokal zugeschaltet wurden: Der neue «Boris Godunow» ist ein voller Erfolg.

Bücher, Akten, Manuskriptbündel: Raumhoch türmen sie sich auf der Opernhausbühne, stehen in Stahlregalen, liegen auf Holzgestellen. Und jetzt singen sie auch noch! Klappen ihre Deckel auf, als seien es Münder. Um einen neuen Zar geht es, um Boris Godunow, der gewählt werden soll. Aber indirekt natürlich auch um Corona: Denn die singenden Bücher sind der erste und genialste Trick, den Regisseur Barrie Kosky sich ausgedacht hat, um Mussorgskis grosse Oper sicher auf die Bühne zu bringen.

Der Chor spielt eine Hauptrolle in diesem Stück. Aber der Chor ist nicht da: Er singt im Probelokal am Kreuzplatz und wird live ins Opernhaus übertragen, wo Bühnenbildner Rufus Didwiszus diese gigantische Bibliothek aufgebaut hat. Sie wird hier im wahrsten Sinn des Wortes zu einem Hallraum der Geschichte, der Erinnerungen, der Meinungen. Zu einem idealen Raum für dieses Werk also, das auf historischen Begebenheiten beruht und von einem Zaren erzählt, der an seiner eigenen Geschichte zugrunde geht.

Dass die Bücher dann bald einmal die Klappe halten, dass die Chorstimmen sich danach ohne ihre Unterstützung im Raum bewegen: Das ist die zweite gute Idee des Abends. Der Gag wird nicht überreizt, es ist auch nicht nötig. Denn der Chor klingt auch in Abwesenheit gut. Man hört nicht nur genau, wo die Frauen und Männer gerade stehen würden, wenn sie dürften; auch ihr Zorn, ihr Leiden, ihr Lachen dringen durch die Glasfaserleitung. So komplex die technische Lösung ist, so unmittelbar ist ihre Wirkung.

Noch besser tönt die vom ukrainischen Dirigenten Kirill Karabits geleitete Philharmonia Zürich. Warm, präsent und plastisch strömt der Orchesterklang aus dem Graben. Nur manchmal erlaubt sich der im Parkett platzierte Tonmeister einen Sondereffekt: Dann schwebt eine Geigenkantilene plötzlich hoch im Raum, oder die Glocken dröhnen aus dem zweiten Rang über alles hinweg.

Nötig wäre das nicht. Denn das Schönste an diesem System ist, dass es so natürlich wirkt. Nur ganz selten stösst es an seine Grenzen, etwa wenn Orchester und Chor sehr laut werden. Ansonsten vergisst man fast, dass etwas anders ist als sonst.

Das hat vor allem damit zu tun, dass sich der Gesang auf der Bühne und die Instrumente am Kreuzplatz verblüffend gut mischen. Die Protagonisten auf der Bühne können sich regelrecht hineinschmeissen, hineinschmiegen in den Orchesterklang. Er trägt sie, umhüllt sie, schwärzt die Abgründe vor ihnen. Dass sie deshalb vollkommen frei singen können: Das ist das Bemerkenswerteste an diesem Abend.

Dies umso mehr, als auch auf der Bühne die Corona-Regeln gelten. Die Bühnenarbeiter tragen Maske, wenn sie die Choreografie der Bibliotheksregale steuern. Und die Figuren berühren sich kaum je – was durchaus passt zu einer Oper, in der sich die beiden Gegner gar nie treffen.

Der eine ist Boris Godunow, und er ist eine Wucht. Denn der Bariton Michael Volle gibt dieses Rollendebüt, als könne er gar nicht anders, als sich in diesen Zaren zu verwandeln. Mussorgskis dem russischen Tonfall abgehörte Musiksprache wird bei ihm zum urpersönlichen Ausdruck einer gequälten Seele: Singen, stöhnen, schreien – bei Volle ist das letztlich alles eins. Seine Schuld am Tod des Zarensohns Dimitri scheint ihn physisch zu erdrücken. Und das Grauen, als dann einer kommt, der sich als dieser Zarensohn ausgibt, erfüllt jeden Ton, jede Geste.

Edgaras Montvidas gibt diesen falschen Dimitri als einen, der erst durch andere seine Konturen erhält: durch den eindringlichen Chronisten Pimen (Brindley Sherratt), den grandios versoffenen Warlaam (Alexei Botnarciuc). Und ja, auch die ehrgeizige Marina (Oksana Volkova): Denn in Zürich spielt man – glücklicherweise! – auch den oft gestrichenen Polen-Akt.

Auch die häufig gekappte finale Chor-Szene wird gezeigt. Regisseur Kosky versucht hier das Fehlen der Volksmassen mit reichlich Kunstblut, einer Riesenglocke und vollem Einsatz des Gottesnarren (Spencer Lang) zu kompensieren. Dass ihm das nicht ganz gelingt, zeigt vor allem zweierlei: wie gut der Rest der Aufführung ist. Und wie gross das Problem, vor das Corona die Regisseure stellt.

Immerhin, auch die witzigste Szene des knapp vierstündigen Abends hat man dem Virus zu verdanken: Marina und der falsche Dimitri nämlich umarmen sich nicht auf der Bühne, ihr «Augenblick der Seligkeit» findet hinter den Kulissen statt. Vorne sitzt nur der grossartige Johannes Martin Kränzle als intriganter Jesuit, pflückt ein Törtlein von seinem Teller, leckt sich die Finger: Schöner könnte man nicht zeigen, wie verlockend und schmierig Macht sein kann.