Joachim Lange, Frankfurter Rundschau (01.12.2006)
Calixto Bieito hat sich in der Opernwelt als Marke etabliert. Sie steht für einen drastischen, Grenzen erkundenden Bühnenrealismus. Weil hier die Mittel der Darstellung konstituierend zum Konzept gehören, besteht die Gefahr, dass sie sich selbst aushebeln und in einem Leerlauf der Überbietung ihre Wirkung verlieren. Der jüngste Basler Don Carlos allerdings deutet einen produktiven Ausweg an. Im Untertitel nennt Bieito seine Version der französischen Fassung von Verdis Oper, Schiller aufgreifend, "ein surrealistisches dramatisches Gedicht in fünf Akten", und genau das liefert er auch.
Damit ist er nicht an den narrativen Pfad der Geschichte zwischen Staatsraison, Freiheitspathos und persönlicher Tragödie gebunden. Kann die unglückliche Liebe zwischen Don Carlos und seiner nachmaligen Stiefmutter Elisabeth, Rodrigo Posas politische und Prinzessin Ebolis private Ambitionen, den düster im Dunkeln dräuenden Druck der Inquisition und ihre lichterloh demonstrierte Macht als Material in die Gegenwart blenden. Und auf einem angedeuteten Bahnhof spielen lassen, was seit dem Anschlag auf den Madrider Atocha-Bahnhof für die Bedrohung durch fundamentalistische Gewalt steht.
Traum vom Feuerwerk
Ariane Isabell Unfried und Rifail Ajdarpasic haben Monitore an Gerüste montiert und mit Sitzbänken und Absperrungen für die bunten Freizeit-Spanier von heute (Kostüme: Anna Eiermann) ergänzt. Und wenn dann über diese Schirme "Hattest du jemals einen Traum, der dir wie Wirklichkeit vorkam" flimmert, dann darf man das als selbstreferenzielles Statement für das Feuerwerk an szenischen Einfällen deuten, das in einem tatsächlichen Feuerwerk endet. Da steht ein unglücklich überforderter Carlos, von Elisabeth mit einem Sprengstoffgürtel zum Selbstmordattentäter gemacht, mit dem Handyzünder in der Hand an der Rampe, während hinten PKW und der "Felipe-II"- Schriftzug in Flammen aufgehen.
Heiß geworden war es auch vorher schon. Zum einen hat Bieito Grenzsituationen ausgelotet. Elisabeth (mit schöner Höhe: Mardi Byers) erscheint Carlos (konditionsstark: Keith Kaia-Purdy) bei ihrer ersten Begegnung als Königinnen-Madonna, deren nackte Brust sich ihm entgegenwölbt. Der dunkle Geist seines Vaters ist als mordender schwarzer Todesengel (Lerma: Karl-Heinz Brandt) stets präsent. Wie ein Gegengeist Elisabeths schwebt ein weißer Engel (Thibault: Aurea Marston) durch den Raum, erst als Symbol der Hoffnung, dann blutig und verletzt wie die Königin. Die wieder wird nicht nur vom König vergewaltigt, sondern verliert selbst in der Rache am Verrat der Eboli ihre Menschlichkeit und jedes Maß.
Der Inquisitor geht über Leichen
Um vergebliche Fluchtwege aus der Welt geht es auch sonst. Posa im sonnyboy-weißen Anzug (geschmeidig: Marian Pop) flüchtet sich in die Selbstaufopferungspose des Heiligen Sebastian, Philippe (sehr markant: Stefan Kocán) in den Wahnsinn. Selbst der Großinquisitor (Allan Evans), der über Leichen geht, flüchtet am Ende in einen anderen Glauben: Er rollt einen Gebetsteppich aus, wenn vorn Eboli in die Verklärung ihrer selbst entschwindet.
Für den großen Dialog zwischen Posa und dem König findet Bieito ein sinnfälliges Bild. Unzählige vom König selbst zurechtgestutzte Bonsaibäumchen sind über die Bühne verteilt - und wenn Posa den Terror schildert, fördert er eine verbuddelte Leiche zu Tage, um sie am Ende des Dialogs wieder verschwinden zu lassen. Beim szenisch heiklen Autodafé kommentiert Bieito Peter Konwitschnys Hamburger Idee, der das Publikum zu einer Stellungnahme herausgefordert hatte.
Der König und sein Gefolge kommen nach der Pause durch den in blutrotes Licht getauchten Zuschauerraum, nach und nach werden in der bunten Gegenwartsmenge nackte oder halbnackte Opfer mit verbundenen Augen auf Knien platziert. Doch dann lässt Bieito nichts in den Flammen aufgehen. Er verweigert diesem Grauen die bildliche Entsprechung, nach dem Abmarsch des Bühnenorchesters auch die Musik, und überlässt dem schwarzen Engel die Szene mit rezitierter Todeslyrik. Die Todeskandidaten bleiben, wo sie sind. Nach der Pause schließlich steht das Bett des Königs inmitten der dann nach und nach Ermordeten, und die individuelle Gewalt erwächst aus der gesellschaftlichen oder umgekehrt.
Was anfangs etwas gestückelt wirkt und als Bilder- und Zeichenflut entfesselt wird, entfaltet nach und nach eine suggestive Kraft. Der antiklerikale Biss ist bei Bieito ein starkes Motiv - allein schon durch Karl, der sich seine Wundmale selbst beibringt, seinem Enkel den Glauben einpeitscht und am Ende nur als Travestie-Star wiederkehrt.
Vor allem sind es die Unbedingtheit, zu der Bieito seine Sängerdarsteller offenbar treiben kann, und die Souveränität, mit der sie ihren Gesang gegen die Übermacht der szenischen Gestaltungs-Herausforderung zu verteidigen verstehen, die diesen Don Carlos zu einem gelungenen Opernabend machen. Dass Leandra Obermann ihre Eboli über die ganze Spannbreite zwischen Täterin und Opfer bis in die verklärte Überhöhung atemberaubend zu spielen und zu ersingen vermag, ist nur die herausragendste Gesamtleistung des überzeugenden Ensembles. Nicht zuletzt vermag sich auch Balázs Kocsár mit dem dramatisch glühenden Sinfonieorchester Basel gegen die Szene nicht nur zu behaupten, sondern sich mit ihr zu verbinden. In Basel überwog in der Premiere die Zustimmung auch für Calixto Bieito.