Michael Eidenbenz, Tages-Anzeiger (27.09.2005)
Das Zürcher Opernhaus präsentiert die überarbeitete dritte Version von Dmitri Schostakowitschs «Katerina Ismailowa». Ein Trauerspiel.
Es ist ein Jammer. Als ob ihm nachträglich noch der Speck durchs Maul gezogen werden müsste, kann das Publikum im Programmheft nachlesen, was es an diesem Abend alles nicht hören durfte. In an sich lobenswerter Offenheit werden über sieben Seiten die Glättungen, Verharmlosungen und Säuberungen aufgelistet, die Dmitri Schostakowitsch seinem bedeutendsten Bühnenwerk angetan hat, als er, erschrocken über die eigene Kühnheit, dessen expressionistische Radikalität zweimal den politischen Zeitumständen anzugleichen suchte. Szene für Szene dürfen wir nachlesen, wie er drastische Instrumentierungen entfernte, unzweideutige bis vulgäre Erotik in Text und Musik zu unverbindlichen Opernlyrismen herabmilderte und von der Darstellung bodenlos zynischer Triebhaftigkeit Abstand nahm zu Gunsten moralischer Eindeutigkeit.
Verriss von Stalin
Schostakowitsch wusste, was er dabei tat: Die Bearbeitungen waren Akte des Selbstschutzes in real lebensbedrohlichen Situationen. Schon 1934, zwei Jahre nach der durchschlagend erfolgreichen Uraufführung seiner «Lady Macbeth von Mzensk» nach Nikolai Leskows gleichnamiger Erzählung, hatte er erste Milderungen und die Umbenennung der Oper in «Katerina Ismailowa» vorgenommen. Vergeblich. Nachdem 1936 Stalin einer Aufführung beigewohnt hatte, erfolgte in der «Prawda» jener legendäre Frontalangriff (Schostakowitsch-Biograf Solomon Wolkow belegt, dass er aus Stalins eigener Feder stammen musste), der den Komponisten wie ein Genickschuss traf und eine lebenslange Traumatisierung Schostakowitschs selbst wie der gesamten russischen Intelligenzija bewirkte. Das Stück wurde zum Tabu, verschwand in der Versenkung. Als nach Stalins Tod die Jahre des sowjetischen Tauwetters anbrachen, wagte Schostakowitsch eine Rehabilitierung, indem er die Oper mit einer erneuten Verharmlosung jener aschfahlen Zeit anglich. Mit Erfolg, denn die dritte Version erlangte grosse Beliebtheit bei sowjetischen Bühnen, und diese «Katerina Ismailowa» präsentiert das Zürcher Opernhaus dem Publikum des 21. Jahrhunderts. Weiss es, was es damit tut?
Es ist klassische instinktive Programmpolitik: Schnell muss eine Inszenierung her, denn 2006 wird Schostakowitschs 100. Geburtstag zu feiern sein. Dieser hat, Stalin sei Dank, nur zwei Opern vollendet. Das genialisch exzentrische Frühwerk «Die Nase» kommt natürlich nicht in Frage, und weil mit Wladimir Fedoseyew ein Dirigent zur Verfügung steht, dem «Katerina Ismailowa» aus alten Sowjetzeiten noch vertraut ist, fällt der Entscheid leicht. Zur Rechtfertigung zieht man Schostakowitschs explizites Beharren auf der letzten Fassung heran, macht sich also dessen Sprachgebrauch aus der nachstalinistischen Ära zu Eigen und verkündet, es sei an der Zeit, nachdem in den letzten zwei Jahrzehnten weltweit nur die Originalversion gespielt wurde, nun die Fassung letzter Hand wieder zur Diskussion zu stellen.
Aus Subversion wird Langweile
Bitte sehr. Die Diskussion ist schnell geführt. Die nach der Pause gelichteten Reihen bei der Premiere am Sonntag sprachen für sich. Das Opernhaus hat es geschafft, die deftigste, sinnlichste, schwärzeste und dabei radikal subversivste Oper des 20. Jahrhunderts der Langeweile preiszugeben. Man braucht die bahnbrechende Einspielung der Originalfassung unter Mstislaw Rostropowitsch von 1978 nicht einmal zu kennen (als Opernfreund muss man sie kennen!), um geradezu physisch unter dieser Demontage eines Kunstwerks zu leiden. Denn was der Komponist nicht schon selbst getan hat, erledigt die Zürcher Produktion.
Klaus Michael Grüber legt eine Inszenierung von so bestürzend ideenloser Biederkeit vor, dass man beinahe geneigt wäre, dahinter seinerseits eine raffiniert hintersinnige Denunziation der Verharmlosung zu vermuten. Evident wird dies freilich nicht. Aus einer Geschichte, die die verheerenden Explosionen beim Zusammenprall von weiblicher Geilheit, männlicher Gewalt, patriarchalischer Verstocktheit, kirchlicher Bigotterie und staatlicher Korruption ausmalt, wird in Francis Biras banal kargen Bühnenbildern gewöhnlichster Opernalltag: Die Kaufmannsgattin Katerina verglüht vor Langeweile und erotischem Sehnen und spielt Patience. Der Seitensprung mit dem Knecht Sergei wird in einer Mischung von Vergewaltigung und Hingabe vollzogen. Ein Küsschen illustriert den schon von Schostakowitsch amputierten koitalen Höhepunkt. Sergei wird von Katerinas brutalem Schwiegervater öffentlich ausgepeitscht, ein etwas zielloses Wedeln mit der Peitsche steht für den Gewaltexzess. Der Gipfel an satirischen Details ist erreicht, wenn russische Bauern und Polizisten alberne Umhängebärte tragen dürfen.
Natürlich wird schön gesungen
Derweil bleibt Dirigent Wladimir Fedoseyew, der ein gründlicher Kenner der Partitur sein mag, neben den koordinatorischen Herausforderungen kaum mehr Energie für dramatische Zuspitzungen. Immerhin legt die Aufführung in der zweiten Hälfte an musikalischer Kraft zu. Kein Wunder: Hier sind auch die bearbeitenden Eingriffe weniger gravierend. Und natürlich wird schön gesungen. Sowohl Reinaldo Macias als Ehemann Sinowi wie Wiktor Lutsiuk als Knecht Sergei glänzen mit tenoralem Gold, können aber weder der Schlappschwänzigkeit der einen noch der ambivalenten Virilität der anderen Figur Konturen geben. Alfred Muff hat den finsteren Patriarchen Boris buffonesk täppisch zu geben, und selbst Solveig Kringelborn in der Titelrolle muss mit ihrer grossartig dramatischen Stimme in artifiziellen Pianissimi um jenen Ausdruck ringen, den die Regie ihrer Rolle nicht zugesteht.
Nichts darf wehtun
Schöngesang, das bietet das Zürcher Opernhaus zuverlässig. Ein Stück aber, das die tradierten Opernaffekte in expressionistischem Gebaren bis zur Schmerzgrenze spreizt, glaubt unser kostspieliger Entertainment-Tempel Publikum und Sponsoren nicht zumuten zu können. Wehtun darf hier nichts. Hier sollen wir uns gefälligst in einem unaufhörlich reanimierten Opernkult aus dem 19. Jahrhundert selbst bespiegeln dürfen. Dmitri Schostakowitschs «Katerina Ismailowa», die als «Lady Macbeth von Mzensk» vor siebzig Jahren in eine Eiterbeule der Zeit gestochen hat, erweist ihre entlarvende Kraft erneut exemplarisch: Diesmal ist es ein morsch gewordener Opernbetrieb, der sich selbst blossstellt, indem er den substanziellen Kern seines Repertoirenachwuchses verhindert. Höflicher Applaus bei der Premiere. Es ist ein Jammer.