Der Oper läutet in Zürich die Totenglocke

Christian Berzins, Aargauer Zeitung (22.09.2020)

Boris Godunow, 20.09.2020, Zürich

So fürchterlich war eine Saisoneröffnung noch nie: Der Oper läutet in Zürich die Totenglocke

Das Opernhaus Zürich trotzt dem Virus, überträgt das Orchester aus dem Proberaum live in den Saal: Das ist schrecklicher, als man denkt.

So fürchterlich war eine Saisoneröffnung am Opernhaus Zürich noch nie. Und alle im Haus, die am Schluss jubelten und im Rhythmus klatschten, wussten es. Nicht, dass ein Sänger abgefallen wäre; nicht, dass das Orchester schlecht gespielt hätte, nicht, dass die Regie ein Aufreger war.

Aber diese Vorstellung von Modest Mussorgskis «Boris Godunow» war schrecklich, da Orchester und Chor coronabedingt im Kreuzplatz spielten und nur via Elektronik live ins Haus übertragen werden konnten.

Es war folglich kein Opernabend, sondern eine Anti-Corona-Demonstration: Künstler und Publikum applaudierten sich gegenseitig, so, wie es im Juni bei den ersten Gehversuchen der Kultur nach dem Lockdown noch und noch geschehen war. Damals hatte ich über diese Reanimation der Kultur geschrieben: «Man ist gezwungen, froh zu sein, dass überhaupt etwas ist, das an früher erinnert.

Womöglich darf man nach einem Konzert nicht mal mehr kritisch sein, muss vor dem Abgang einfach «Danke, habt ihr für uns gespielt» sagen.» 40 Tage später, anlässlich der Salzburger Festspiele, meinte ich, dass dieses Danke-Sagen nun endlich vorbei sei, dass es nun mit Haut und Haar wieder der Kunst gelte.

Doch was war das in am Sonntag? Galt es da der Kunst? Muss man beschreiben, wie schrecklich es ist, wenn das Orchester nicht im Haus ist, wenn es sich dort nur via Glasfaser entfalten kann? Soll man schreiben, dass im Fortissimo Chor und Orchester zu einem brutalen, dröhnenden Metall-Klang wurden? Dass es in den stillen Einleitungen, wo noch keine Handlung zu sehen war, klang, als schlage da die Totenglocke?

Man kann sich auch mit dem lapidaren «Besser als nichts» begnügen. Besser, als zu Hause Opern streamen. Besser, als Netflix schauen… Doch hier geht es um Grundsätzliches: Kunst berührt die Menschen von Haut zu Haut, von Seele zu Seele. Deswegen setzen wir uns in einer Tausendschaft in einen Saal, erleben von Künstlern für Menschen geschaffenen Klang, daraus wird Magie. Ein Glasfasernetz macht sie zunichte.

Es sei erwähnt, dass Michael Volle als Titelheld grossartig ist, dass aber die Regie von Barrie Kosky enttäuscht. Dass er den Chor nicht über die Bühne wälzen muss, hat ihn wohl kaum gestört, er hat in «Macbeth» damit Erfahrungen gesammelt. Schon im Zürcher «Macbeth». Kosky hilft sich mit hochästhetischen Tricks und bestens ausgeleuchteten Finten, lässt gar Bücher in einer Bibliothek singen, überdreht den Effekt und bald denkt man nur noch an den offenen Mund des Frosches Kermit.

Schlimmer aber ist es, dass Kosky die Handlung bloss buchstabiert, die Geschichte statt lenkt, geschehen lässt. Den später dazu komponierten «Polen-Akt» kann er nicht ins Geschehen integrieren und die Schlussszene zerfällt. Das Publikum nahm es mit wenig Murren hin.

Die Frage bleibt: Wie stark lassen wir uns von diesem Virus einschränken, wann verzichten wir besser auf etwas? Oder wann suchen wir neue Formen für etwas, das in Stein gemeisselt schien. Wer Carreisen für Gruppen organisiert, muss sich auch etwas einfallen lassen.

Schon am Freitag steht in Zürich die nächste Neuproduktion an. Man wird sich am einen Eingang drängeln, in den Gängen auf den Füssen stehen und mit nur 300 leeren Plätze (800 statt 1100) nebeneinandersitzen. Wie es euch gefällt... Alle haben die Masken auf. Popcorn wird nicht verkauft.

In einer der unheimlichsten «Boris»-Szenen erzählt Pimen über einen blinden Hirten: «Ich war ans Dunkel so gewöhnt, dass mir im Traum sogar nur unsichtbare Dinge erschienen; mir träumten stets nur Klänge.» Der Traum vom Klang ist für den Hirten ein Hoffnungsschimmer.