Entkitschte Idylle

Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (04.07.2005)

La Bohème, 03.07.2005, Zürich

Puccinis "La Bohème" schloss die diesjährigen Premieren ab. Nach dem plötzlichen Tod von Marcello Viotti übernahm Franz Welser-Möst die Produktion. Die Festspielpremiere wurde in memoriam Marcello Viotti abgehalten. Als etwas pietätlos – wenn auch vermutlich nicht so beabsichtigt – empfand ein Grossteil des Publikums Intendant Pereiras Verknüpfung des Nachrufs auf Marcello Viotti mit der Bekanntgabe der Vertragsunterzeichnung Welser-Mösts als GMD.

Die zwölfte Premiere dieser Saison entpuppte sich als durchaus festspielwürdig. Es war bestimmt kein einfaches Unterfangen, die beliebte naturalistische, jedoch arg in die Jahre gekommene Inszenierung von Claus Helmut Drese abzulösen. Man hatte in der näheren Vergangenheit gesehen, wie schwierig es ist, beliebte, gängige Opern neu in Szene zu setzen (ich denke da an "Carmen", "Barbier" oder auch "Così", um nur einige zu nennen).

Der erstmals am Opernhaus engagierte Philippe Sireuil hat diese Herausforderung angenommen und meines Erachtens sehr gut bewältigt. Seine "Bohème" ist sicher kein Geniestreich, dazu fehlt es an neuen Erkenntnissen. Aber er schafft es, in einer kargen, modernen Bühnenwelt das Stück zeitversetzt zu erzählen, ohne dass man die "Bohème" nicht wieder erkannt hätte. Es ist eine konventionelle Inszenierung, die mit viel Liebe zum Detail und einer sehr guten Personenregie ausgestattet worden ist. Leider finden sehr viele Szenen ganz am linken oder am rechten Bühnenrand statt, so dass einige der Zuschauer (so auch ich) vieles nicht mitbekamen. Offensichtlich auch einige Mätzchen, die das Stück nicht nötig hätte, wie Colline, der mit heruntergezogenen Hosen vom "stillen Örtchen" kommt. Als extrem dilettantisch empfand ich hingegen, dass das Schlussbild (Rodolfos Kammer öffnet sich auf ein Feld von Sonnenblumen, vermutlich eine Reminiszenz an das Bekenntnis des Liebespaares "ci lasceremo alla stagion' dei fior..") bei den Zuschauern im 2. Rang nicht den gewünschten Effekt erzielen konnte, da die Sonnenblumen schon während des ganzen 4. Bildes zu sehen waren. Ein schwarzer Vorhang hätte gereicht, um dies zu verhindern. Sind Zuschauer im 2. Rang minderwertige Zuschauer? Oder sind Regisseure/Bühnenbildner (denn nicht nur Sireuil unterlaufen solche handwerklichen Schlampereien) zu faul, in den 2. Rang hinaufzusteigen und die Wirkung ihrer Bildkompositionen zu kontrollieren?

Gelungen hingegen die Umsetzung der Mansarde. Extrem eng geraten, mit wenig Platz und sehr wenig Requisiten. Dies war auch vom Sängerischen her ideal, ermöglichte es doch den Sängern, von einem günstigen Standort aus über das mächtige Orchester zu singen, ohne ins Rampensingen zu verfallen. Ebenfalls sehr angenehm war der praktisch nahtlose Übergang zum 2. Bild, auch wenn es sich hierbei um die Karnevalszeit und nicht um Heiligabend handelt. Es ist etwas gar viel "Action" auf der Bühne zu sehen, aber das ist schon alleine durch die Vielzahl an Choristen und Statisten bedingt.

Dass das 3. Bild nicht jenseits der Zollschranke beim Quartier Latin vor einem Cabaret spielt, sondern in einer Bahnhofshalle (offensichtlich mit Freudenhaus, aber das konnte ich von meinem Platz auch nicht sehen), störte nicht weiter. Reisende gibt es an einem Bahnhof zuhauf, denen Musetta das Singen beibringen könnte, und auch am Bahnhof kann es Zöllner geben.

Alles in allem eine - zumindest von dem zu urteilen, was ich sehen konnte - gelungene Umsetzung, die von der hervorragend agierenden, spielfreudigen Sängergilde getragen wurde. Die Komik kam ebenso zum Zug wie die Tragik, und musikalisch konnte kaum etwas ausgesetzt werden.

Cristina Gallardo-Domâs trat zum ersten Mal in Zürich auf. Ihre Mimi war absolut bestechend. Naiv, märchenhaft, romantisch, verzweifelt… alles konnte sie in die Stimme und in die Interpretation legen. Ihr Sterben war überwältigend - berückende Piani, welche fast im Unhörbaren erstarben, genial untermalt vom Orchester, das sich bis zum Äussersten zurücknehmen konnte. Marcello Giordiani litt an diesem Abend entweder an Lampenfieber (doppelte Belastung durch Premiere und TV-Aufzeichnung?) oder war etwas indisponiert. Sein Timbre ist ja Geschmackssache (meist mit einem Schleier belegt), aber gestern hatte er bisweilen etliche Mühe in der Höhe (eng) und die Stimme rutschte nach hinten. Differenzierung war nicht unbedingt seine Sache, auch wenn er zwischendurch sehr schöne Pianostellen hatte. Aber trotz allem: In keinem Augenblick beschlichen einen Bedenken, dass er die Partie nicht meistern würde.

Die Musetta wurde frivol, spritzig und leicht von Elena Mosuc verkörpert, die mit ihrem glockenhellen Sopran die Herzen für sich einzunehmen wusste. Auch ihre Wandlung im letzten Bild vermochte sie anrührend zu gestalten. Schade, dass sie bei ihrem ersten Auftritt etwas unvorteilhaft gekleidet war (wo hatte da der Kostümbildner Jorge Jara seine Augen?). Ihr debiler Lover Alcindoro (Giuseppe Scorsin) als Moshammer-Verschnitt wurde für mein Empfinden etwas gar trottelig dargestellt, während der Benoît von Rolf Haunstein in seiner Unbedarftheit etwas Anrührendes hatte. Hervorragend der Marcello von Michael Volle. Sein warmer, kraftvoller Bariton verströmte Wohlklang, vermochte zu betören und besass die nötige Durchschlagskraft, um jederzeit voll zu überzeugen. Dass dieser Künstler auch ein hervorragender Schauspieler ist, rundet seine Leistung bei jedem seiner Auftritte ab. Auch der Schaunard von Cheyne Davidson und der Colline von Lászlo Pólgar erfüllten die hoch gesteckten Erwartungen, ganz so wie der Chor und der Kinderchor.

Das Orchester der Oper Zürich hatte wieder einen Glanztag erwischt. Franz Welser-Möst dirigierte Puccini entschlackt, mit einer ausgeprägten Dynamik (feinste Piani lösten Fortissimi, welche bisweilen die Akustik des Opernhauses an ihre Grenzen brachten, ab), die Spannungsbögen waren brillant ausgearbeitet, es entstand nie Langeweile. Trotz der transparenten Lesart waren Sinnlichkeit und "Schwülstigkeit" gegeben, ohne dass diese aber pastos wirkten. Dadurch ergaben sich neue Erkenntnisse in einem Werk, das man doch zu kennen glaubte.

Fazit: eine Festspiel-Premiere, die Spass gemacht hat!