Ein Hauch von Kino

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (05.07.2005)

La Bohème, 03.07.2005, Zürich

Giacomo Puccinis Oper «La Bohème» im Opernhaus Zürich

Er wolle sich am Realismus von Aki Kaurismäkis Film «La vie de Bohème» orientieren, liess Regisseur Philippe Sireuil verlauten. Das ist ihm weitgehend gelungen.

Das karge Intérieur mit Bett, Tisch und Ofen und darüber die Dächer von Paris - der Anfang von Puccinis Oper «La Bohème» sieht in fast allen Inszenierungen gleich aus. Die Künstlertypen haben sich im Elend wohlig eingerichtet. Einer von ihnen wird immer mal wieder etwas zu Essen und eine Flasche Bordeaux nach Hause bringen, und wenn der Ofen mangels Brennholz kalt ist, tut es auch ein brennbares Manuskript.

Rodolfo, Marcello, Colline und Schaunard sind in der Zürcher Inszenierung von Philippe Sireuil (Bühne: Vincent Lemaire) noch filmreifer als gewohnt. Sie feiern die Weihnachtstage mit lustigen Hütchen auf dem Kopf, was dem Ganzen einen komischen Anstrich gibt und den Kontrast zum Elend - auch zu dem der todkranken Nachbarin Mimi - verstärkt.

die details. Es ist weniger die traditionelle Sicht aufs Ganze, die diese Inszenierung auszeichnet, als der genaue Blick für die Details. Wenn Mimi auf der Suche nach Kerzenlicht - und im übertragenen Sinn nach Liebe - die Dachkammer der Vier betritt und in einem unbewussten Akt von Zielstrebigkeit den Zimmerschlüssel verliert, macht sich Rodolfo gar nicht lang auf die Suche nach dem verlorenen Objekt und greift rasch nach dem «eiskalten Händchen». Mimi dreht den Wandspiegel in der fremden Wohnung um, um nicht ihr krankes Gesicht sehen zu müssen. Im Schlussakt wird Rodolfo den verkehrt hängenden Spiegel bemerken und einen Augenblick zögern, was er tun soll.

Das sind, ebenso wie die im dritten Bild auftauchenden Passanten, schöne Details, die für die Personenführung Philippe Sireuils sprechen. Diskutabel ist der Schluss: Die vier Freunde finden sich in der Dachwohnung wieder, aber es fehlt die Pariser Dächer-Silhouette, dafür erhebt sich jetzt der nachtblaue Himmel über einem Sonnenblumenfeld, das nach Mimis Tod plötzlich sichtbar wird. Da kippt Naturalismus ins Surreale.

eine welt. Vor allem das zweite Bild vor dem Pariser Café Momus gerät Sireuil und dem Zürcher Ensemble meisterlich. Puccini hat darin grosse Oper, Kindergeschrei, eine Banda, Chor und Orchester zu einem kühnen Gesellschaftsbild verdichtet. Auf der Zürcher Opernbühne vor dem zum Stehimbiss umgedeuteten Restaurant Momus wird nun - nicht zuletzt von den Chören - glänzend gesungen und gespielt. Die Ausgelassenheit der Meute kontrastiert mit dem seelischen Elend, das sich anbahnt, als Rodolfo ahnt, dass Mimi todkrank ist.

Marcello Giordani gibt den Dichter-Liebhaber mit strahlendem, sauber geführtem, mitunter allzu lautem Tenor. Cristina Gallardo-Domâs ist eine ungemein differenzierte Mimi, die ihre Stimme vom subtilen Piano zum durchschlagenden Forte modelliert. Eine attraktive Musetta mit glockenhellem Sopran-Timbre gibt Elena Mosuc. Cheyne Davidson (Schaunard), Michael Volle (Marcello) und László Polgár (Colline) sind die Bohémiens, die darstellerisch wie stimmlich kaum Wünsche offen lassen. Eigentlich hätte Marcello Viotti diese Produktion einstudieren und leiten sollen. Sein Tod im Februar zog einen brutalen Strich durch diese Rechnung.

Die Aufgabe wurde von Franz Welser-Möst übernommen, der das Stück sinnlicher und sentimentaler nahm als so mancher Italiener. Einmal mehr erwies sich der frisch gebackene «Generalmusikdirektor» der Zürcher Oper als Routinier, der auch mal in eine ihm vielleicht eher wesensfremde Rolle schlüpfen kann.