Eine Frau zum Verlieben

Roger Cahn, Blick (05.07.2005)

La Bohème, 03.07.2005, Zürich

Ein intelligentes Stück, stimmungsstarke und feinfühlige Musik. Puccinis Drama «Bohème» um Liebe und Tod zählt zum Besten, was Oper zu bieten hat. Die neue Zürcher Produktion erfüllt höchste Ansprüche. Premiere war am Sonntag.

Die Festspielpremiere galt dem Andenken des im März verstorbenen Schweizer Dirigenten Marcello Viotti. Er hätte die Produktion leiten sollen. Nach einer Schweigeminute übernahm der «alt-neue» Musikchef des Hauses, Franz Welser-Möst (44), das Zepter.

Und wie! Nicht mit italienischer Verve und Kraftmeierei, sondern mit viel Einfühlung in die Psychologie der Figuren. Welser-Möst opfert äusserliche Effekte und ersetzt diese durch Liebe zu den Details. Seine «Bohème» wird zum Psycho-Drama, das unter die Haut geht. In der armseligen Pariser Künstlerszene des ausgehenden 19. Jahrhunderts verlieben sich die Näherin Mimi und der Poet Rodolfo «sterblich» ineinander. Mimi erliegt am Ende in den Armen des Geliebten ihrer Lungenkrankheit - ein Bühnentod, der seinesgleichen sucht. Regisseur Philippe Sireuil verzichtet auf Aktualisierung, inszeniert zeitlos, freut sich am Alltäglichen der fantasievollen Lebenskünstler und zelebriert die Armut im positiven Sinn. Bühnenbild (Vincent Lemaire) und Kostüme (Jorge Jara) treffen mit einfachen Versatzstücken und billigen Klamotten haargenau die Atmosphäre der «Bohème». Puccini steht und fällt mit den Sängerinnen und Sängern. Auch da bietet diese Produktion Spitzenklasse. Die Chilenin Cristina Gallardo-Domâs lebt mit jeder Ader die Tragik der Mimi und lässt die Feinheiten der Musik in ihrer Kehle wie Butter zergehen - eine Frau zum Verlieben. Der Sizilianer Marcello Giordani geniesst vor allem die Dramatik seiner Rolle. Sein kraftvoller Tenor strahlt weit über die engen Dimensionen des Zürcher Opernhauses hinaus. Fazit: Höhenflug am Ende einer durchzogenen Saison.