Lebenswärme und kalte Hände

Herbert Büttiker, Der Landbote (05.07.2005)

La Bohème, 03.07.2005, Zürich

Weihnachten im Sommer: Die Festspielpremiere des Opernhauses war ein Geschenk an das Publikum, zu Festspielpreisen im Haus, umsonst auf dem Münsterhofplatz, wo es «La Bohème» auf Leinwand gab.

Trauer und Freude treffen aufeinander. Das Opernhaus widmete die Premiere von «La Bohème» dem verstorbenen Dirigenten Marcello Viotti, der sie hätte dirigieren sollen. Nach der Aufforderung zum Gedenken fügte Alexander Pereira die Neuigkeit an, die Franz Welser-Möst betraf. Er hat die Einstudierung und Leitung der Aufführung nun übernommen. Ab September ist er Generalmusikdirektor des Hauses (siehe Montagsausgabe). «Vita gaia e terribile» – das Zitat aus Henri Murgers Roman «Scènes de la Vie de Bohème» steht auch über Puccinis fein und grandios gearbeiteter Partitur. Sie empfahl sich an diesem Abend zur Habilitation des neuen GMD: eine wunderbare Vorlage für Welser-Mösts hinhorchendes und zugriffiges Musizieren, seine spezifische Sensibilität. Im vierten Bild zum Beispiel: brillant zugespitzt die kurze Tanzmontage, prall das burleske Crescendo der komischen Duellszene und dann mit dem Auftritt Mimìs der weite Zug einer «unendlichen Melodie», die in ihrer Kulmination im Forte wie im sachten Verebben mit aller Behutsamkeit gestaltet wurde – Puccini in der Nähe Mahlers sozusagen.

Sensibiliät in der Männerrunde

Aber die Sänger sind bei Puccini handelnde Personen und nicht symphonisch mitlaufende Stimmen. Die Tendenz, sie allzu sehr ins Weiträumig-Orchestrale einzuspannen (Duett beziehungsweise Arien im ersten Bild), sie gleichsam ein wenig auf Wagner zu trimmen, ist da und dort spürbar. Die beiden Protagonisten haben freilich den grossen Atem, um souverän mitzuziehen. Bei Marcello Giordanis Rodolfo mag der jugendlich-warme Ton dafür ein wenig zu kurz kommen, Cristina Gallardo-Domâs' Mimì aber ist davon erfüllt, voller Intensität, voller Timbre auch im Sanften und glaubhaft mit jeder Faser. Im Quartett der Bohémiens zeichnet sich Rodolfo mit belcantistischer Verve zwar besonders aus, aber er fügt sich auch robust in die rauere, wenn auch nicht unsensible Männerrunde: zu Marcello, dem Michael Volle baritonale Fülle verleiht, zu Colline, den László Polgárs Bass zum starken und skurrilen Charakterkopf formt, und Schaunard, der durch Cheyne Davidson angemessene Präsenz erhält – der Rolle entsprechend, die das Stück dem Musiker zuweist: von den anderen zwar als einkommensstärkster Kumpan begrüsst, sonst aber beiläufig behandelt zu werden.

Die Lebensnähe der unterschiedlichen Typen und Temperamente arbeitet der Regisseur Philippe Sereuil mit einigem Witz, aber ohne aufgesetzte Gags heraus. Dies im Bühnenbild von Vincent Lemaire, das die Enge und Kargheit der Mansardenexistenz zeigt, aber nach schneller Verwandlung auch Platz für das grosse Strassenbild bietet. Auch das dritte Bild – hier eine Bahnstation – ist mit dem in der Höhe verstellbaren Glasdach schon angelegt: Atmosphärischer Realismus, wie ihn die in den kalten Wintermonaten spielende Oper verlangt, kommt in diesen Bildern zum Tragen und folgt doch keinem sklavischen Eins zu Eins. Das dünne Ofenrohr, das sich krumm in die Höhe rankt (wie in van Goghs Hospital), ist so auch ein Kommentar zu den «kalten Händen», die das Leitmotiv der Oper sind. Und erst recht ein solcher ist das Sonnenblumenfeld, das mit Mimìs Tod im Hintergrund der Bühne plötzlich in Blüte steht.

Kunst und Karneval

Die Sonnenblumen setzen einen Kontrapunkt zur winterlichen Tristesse, den Puccinis Musik freilich nicht vorgesehen hat. Dafür übergeht die Inszenierung den im Werk angelegten: Das weihnachtliche Strassenbild in seiner satten Bürgerlichkeit, mit Konsumrausch und frohen Laune, ist hier in bizarrer Kostümierung (Jorge Jara) in ein karnevaleskes Tohuwabohu (grossartig halten sich dabei die Chöre und insbesondere auch der Kinderchor des Opernhauses) verwandelt, in dem alles ununterscheidbar ist: Bohème und Bürgertum, die Sehnsucht nach Wärme und die Satire auf den reichen Bourgeois, der von Musette an der Nase herumgeführt wird. Gerade an ihr zeigt sich (abgesehen auch von den Kindern), wie schief die Assoziationen zu Künstler- und Studentenball ist: Elena Mosuçs mag gut bei Stimme sein, ihre Walzer-Koketterie greift nicht, und was sie spielt, hat mehr mit Harlekinade als provozierender Erotik zu tun. Für die Bohémiens gilt übrigens Ähnliches in abgeschwächter Form: Ernsthafte künstlerische Absichten scheint ihnen die Inszenierung nicht annähernd unterstellen zu wollen, mit Fasnachtshüten dagegen ist sie freigiebig.

Mit dem dritten Winterbild an der «Barrière d'Enfer» ist das Manko vergessen: «La Bohème» wird wieder zum Stück, das es ist. Gross und schön, wie es die Musik am Unmusikalischen wachsen lässt, am Husten eines Menschen, der den Winter nicht überlebt, und wie es mit dem lapidaren Schicksal auf das Wesentliche eingeht: die kalten Hände und die Sehnsucht nach Wärme.