Die Klage des Poeten rührt zu Tränen

Urs Mattenberger, Neue Luzerner Zeitung (05.07.2005)

La Bohème, 03.07.2005, Zürich

Gefühlskino auf der Opernbühne: Die Zürcher Neuinszenierung von Puccinis populärster Oper überflügelt Hollywood nur dank hervorragender Sänger.

Licht und Sonne, so weit das Auge reicht: Beim Schlussbild von «La Bohème» im Opernhaus Zürich dürfte an der Premiere vom Sonntag kein Auge trocken geblieben sein. Eben noch hat die kranke Mimì mit dem Tod gerungen. Ihr Geliebter Rodolfo bricht über der Toten zusammen, auch aus Verzweiflung, weil die Armut, in der er als erfolgloser Poet lebt, ihren Tod beschleunigt hat. Da, im allerletzten Moment und schon zu spät, schieben sich die Wände der schmalen, an den Orchestergraben gedrängten Bohème-Mansarde zur Seite und geben den Blick auf die Hinterbühne frei: auf ein Meer von Sonnenblumen, deren unbewegte Unschuld und Schönheit man nicht erwartet hat und die mit der Tristesse des Lebens der Bohème aufs Schärfste kontrastieren.

Aussenseiter als Lebenskünstler

Und doch verdankt das Bild seine Wirkungskraft einem Déjà-vu-Effekt. Landschaftsbilder mit Korn- und Blumenfeldern hat man dutzendfach im Kino gesehen. Tatsächlich liess sich der belgische Regisseur Philippe Sireuil bei seiner ersten Arbeit für die Zürcher Oper vom Kino inspirieren. Im Sinn von Aki Kaurismäkis Verfilmung des Bohème-Stoffes interessierte ihn das «Dasein von Aussenseitern», von jungen Menschen am Rand der Gesellschaft, die nur als Lebenskünstler über die Runden kommen. Dazu gehört der Realismus der sparsamen Bühnenbilder von Vincent Lemaire und der zeitlosen Kostüme von Jorge Jara, die teils gar aus dem Brockenhaus stammen.

Konventionell nacherzählend

Um mit den Klischees der Bohème-Romantik zu brechen, genügt das freilich nicht. Und die Idee, Puccinis Oper mit ihrem Hang zu Breitwandemotionen im Stil des modernen Gefühlskinos zu thematisieren, ist auch nicht neu: Diesen Weg ging bereits vor Jahren die letzte Bohème-Produktion im Luzerner Theater, indem sie ironisch mit Versatzstücken der Pop-Kultur und des Popcorn-Kinos spielte. Sireuils konventionell nacherzählendem Regiestil geht solche Ironie ab. Er macht Puccinis populärste Oper eher zu einem Vorläufer des Hollywood-Kinos, das ganz direkt auf grosse Gefühle setzt.

Da ist, wie gehabt, Marcello das verkannte Genie, das sich als «Kneipenmaler» durchs Leben schlagen muss, auch wenn er sich mit einem selbst gestrickten Schlabberpullover den Anstrich eines selbstgewählten Aussteigertums gibt. Und Rodolfo ist auch hier nichts anderes als ein selbsternannter Poet, der Manuskripte nur für die Schublade schreibt - und damit bestenfalls noch den Ofen seiner Künstlerbude heizen kann. Dass die verschüchterte Mimì keck die Initiative ergreift, um den frisch Verliebten Rodolfo zum Weihnachtsmarkt zu schleppen, ist da nur ein punktueller Regie-Versuch, aus herkömmlichen Bohème-Klischees auszubrechen.

Für eine eigenständige Neuinterpretation ist das zu wenig, auch wenn im dritten Akt ein menschenleerer Zugsbahnhof ein stimmungsvolles Bild für existenzielles Unterwegssein und Heimatlosigkeit schafft. Die Verbindung der realistischen Milieustudie mit dem grossen Gefühlston der Oper machte mit die epochale Bedeutung der Bohème aus. Aber seit eben das Hollywood-Kino ähnliche Szenarien in ungleich opulenteren Bildern auf die Leinwand bringt, wirkt der biedere Realismus, wie ihn Sireuil im Grunde bietet, auf der Opernbühne nur mehr wie ein Abklatsch.

Entschlackter Ton

Was indes hervorragend funktioniert, ist die musikalische Seite der Produktion. Franz Welser-Möst, der am Premierentag einen Vertrag als Generalmusikdirektor des Opernhauses für sechs Jahre unterschrieb, verleiht der Orchesterpartitur mit entschlacktem Ton ein Höchstmass an Farbigkeit und dramatischer Schärfe. Zugleich lässt er die grossen Gefühlsaufschwünge in weiten Bögen atmen. Vor allem aber sind in den Hauptrollen vorzügliche Stimmen zu hören.

Beeindruckende Mimì

An erster Stelle zu nennen ist die chilenische Sopranistin Cristina Gallardo-Domâs: Mit einer Stimme, die überraschend auch über dunkle Timbres verfügt, verbindet sie in der Rolle der todkranken Mimì Zerbrechlichkeit mit überbordendem Gefühls- und Leidensausdruck. Trotz einzelner Anstrengungen steht ihr der Rodolfo von Marcello Giordani mit dramatischem Impetus ebenbürtig zur Seite. Michael Volle als prächtiger Marcello und Elena Mosuc als verführerisch schillernde Musetta setzen sich zudem mit natürlichem Ausdruck auch darstellerisch über eine Personenregie hinweg, die sich selbst im bunten Weihnachtstreiben (mit vorzüglichem Theater- und Kinderchor) im Quartier Latin in Stereotypen erschöpft.