Im Strom der Gefühle

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (05.07.2005)

La Bohème, 03.07.2005, Zürich

«La Bohème» von Giacomo Puccini im Opernhaus

Ausgerechnet «La Bohème» für eine hochsommerliche Festspielpremiere, ein Stück über junge Menschen, die zur Weihnachtszeit in einer Pariser Dachkammer schlottern! Sobald die ersten Takte erklingen, sind alle Zweifel verflogen, gibt es nur noch diese eine, in jugendlichem Gefühlsüberschwang pulsierende Welt der Bohémiens. Franz Welser-Möst, der frisch installierte Generalmusikdirektor des Opernhauses, und sein Orchester geben der Musik Giacomo Puccinis alle Zartheit und Leidenschaft, allen Schmelz und alle Härte, alle Farbigkeit und Drastik, die ihr eingeschrieben sind, und schlagen dabei über die vier Bilder hinweg einen weiten Spannungsbogen - ein musikalischer Höhepunkt zum Saisonende und eine würdige Hommage an den im Februar verstorbenen Dirigenten Marcello Viotti, der diese Festspielpremiere hätte leiten sollen.

Die Neuproduktion zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass Klang und Bild im besonderen Mass übereinstimmen. Vincent Lemaires offene, sparsam möblierte Bühne verschafft der Musik nicht nur Raum, sie vollzieht deren Duktus mit, zeigt, wie klar die so spontan, ja improvisiert wirkenden Szenen gebaut und strukturiert sind. Das gilt insbesondere für die fast symmetrischen Entsprechungen zwischen den beiden Bildern in der glasüberdeckten Dachkammer, von denen das zweite nicht nur den Übermut der mittellosen Künstler, sondern - mit dem Eintreten der sterbenden Mimì - auch die Innigkeit und Gefühlsintensität des ersten steigert. Dass dabei die Rückwand zweimal fällt, zuerst beim Übergang ins zweite Bild, am Schluss, bei Mimìs Tod, um den Blick auf ein Feld voller Sonnenblumen freizugeben, deren Symbolik den Realismus von Philippe Sireuils Spielführung bricht, müsste allerdings nicht sein. Die Parallelität von Musik und Szene erweist sich auch in der extremen Kontrastierung der zwei mittleren Bilder: hier das faschingshafte Gewimmel vor dem auf ein paar Stühle reduzierten Café Momus, dort (anstelle der Barrière d'Enfer) die trostlose Leere eines nächtlichen Bahnhofs mit Stundenhotel.

Nicht nur für die Musik, auch für die Figuren schaffen diese Bilder Raum, und Philippe Sireuil, der belgische Regisseur, der erstmals am Zürcher Opernhaus wirkt, lässt ebenso wie der Kostümbildner Jorge Jara keinen Zweifel daran, dass die von Henri Murger vor 150 Jahren zum Leben erweckten Pariser Bohémiens auch für unsere Zeit Inkarnationen der Jugend mit ihren Nöten und Freuden, ihren Schmerzen und Hoffnungen sind. Was immer Mimìs Krankheit sein mag: Wie hier ein junges Leben auslöscht, eine Gemeinschaft erschüttert wird, das hat die Kraft existenzieller Erfahrung. Um Cristina Gallardo-Domâs' Mimì weht von Anfang an eine leise Melancholie, die ihr Aufblühen im Liebesglück mit dem Dichter Rodolfo umso strahlender, ihr Sterben umso ergreifender macht und die auch dann in ihrem schlanken, fein abgetönten Sopran mitklingt, wenn dieser sich kraftvoll in die Höhe schwingt und ins Forte ausgreift. Wie anders die temperamentvolle, kapriziöse Musetta von Elena Mouc, deren Sopran mühelos von virtuoser Brillanz zu satter Wärme findet.

Weniger ausgewogen das Quartett der Künstler-Freunde. Der Tenor von Marcello Giordani klingt in der Partie des Rodolfo reichlich schwer, laut und wenig geschmeidig. Da weist Michael Volles Marcello in Stimme und Darstellung weit mehr Facetten auf. Cheyne Davidsons Zurückhaltung entspricht der Rolle des stillen Musikers Schaunard, während László Polgár in seiner grotesken Aufmachung als Colline nur am unverwechselbaren Timbre seines Basses wiederzuerkennen ist. Einen Farbtupfer setzt im zweiten Bild Giuseppe Scorsins geckenhafter Alcindoro, nachdem Rolf Haunsteins Hausmeister Benoît die übermütigen Freunde mit grauer Spiessigkeit konfrontiert hat. Sireuil versteht es, sie alle lebendig miteinander kommunizieren zu lassen, und nicht nur im Spiel der Bohémiens und ihrer Freundinnen, auch beim Auftritt der Chöre zum fröhlichen Weihnachts-Strassenfest gibt es manch sprechendes Detail zu entdecken in dieser impressionistisch leichten, doch sehr präzisen «Bohème»-Einstudierung.