Gut verträgliche Leichtigkeit

Verena Naegele, St. Galler Tagblatt (05.07.2005)

La Bohème, 03.07.2005, Zürich

«La Bohème» am Opernhaus Zürich: In memoriam Marcello Viotti

Eigentlich hätte Marcello Viotti dirigieren sollen. Nun wurde «La Bohème» zur eindrücklichen «In memoriam»-Veranstaltung für den im Februar verstorbenen Maestro.

Nach dem Tod Mimis wird die beengende Rückwand von Rodolfos Mansardenzimmer beiseitegeschoben, und der Blick weitet sich auf ein über und über mit Sonnenblumen übersätes Feld. Mit diesem überkitschigen Bild zerstören Regisseur Philippe Sireuil und sein Bühnenbildner Jorge Jara eine zwar konventionelle, aber in sich stimmige Inszenierung zum Schluss gleich selbst - bewusst?

Der belgische Regisseur, der noch von Marcello Viotti nach Zürich geholt worden war, stellt in seiner Inszenierung die unerträgliche Leichtigkeit des Seins in den Mittelpunkt seiner Dramaturgie. Milan Kunderas berühmte Aussage und Aki Kaurismäkis Verfilmung der «Scènes de la vie de Bohème» sind den ganzen Abend hindurch präsent. Ja, die Inszenierung hat mit ihrer Realitätsnähe insgesamt stark cinéastischen Charakter. Die Möblierung des Mansardenzimmers besteht aus einigen Küchenhockern und einem uralten Sofa aus dem Brockenhaus. Auch die Kostüme von Protagonisten, Chor und Kindern stammen allesamt aus Second-Hand-Shops.

Starkes Frauenporträt

Wunderbar ist, wie Sireuil diese realistische Bohème-Welt der vier Lebemänner zeichnet, wie unbekümmert, aber auch sinn-entleert Rodolfo und seine Kumpane die Zeit totschlagen. Und auch wenn Cheyne Davidson (Schaunard), Laszlo Polgar (Colline), Michael Volle (Marcello) und Marcello Giordani (Rodolfo) die hohen schauspielerischen Vorgaben nicht immer erfüllen, so wird doch deutlich, wie ziellos und desillusioniert sie durch die Welt torkeln. Dass da die kranke Mimi keine Überlebenschance hat, ist klar.

Cristina Gallardo-Domas ist im Moment wohl die berühmteste Mimi überhaupt. Mit ihrem wunderbaren Lirico-Spinto-Sopran beherrscht die Chilenin die beschaulichen Momente wie die grossen Gefühlsausbrüche ohne Makel. Am meisten imponiert aber, welch ernsthafte und starke Frau ihre Mimi ist, welch reichen farblichen und mimischen Facetten sie ihrem Porträt verleiht. Zusammen mit der koloraturgewandten und quirlig agierenden Elena Mosuc als Musette ergibt sich so ein spannungsreiches, gegensätzliches Frauenpaar.

Mimi zur Seite steht mit Marcello Giordani ein Sänger, der ebenfalls die leisen Töne pflegt, auch wenn er mit Emphase seinen vielbejubelten Tenor präsentiert. Überhaupt erlebt man eher selten so viele leise, bewegende Töne wie an diesem Abend. Zu danken ist das auch Franz Welser-Möst, der Wert auf hohe Klangkultur legt - manchmal allerdings allzu geradlinig musiziert. Das Duett von Rodolfo und Marcello, in welchem sie ihrer verloren geglaubten Liebe nachtrauern, hat gar etwas Walzerhaftes an sich. In solchen Momenten vermisste man schmerzlich Viottis sicheres Gespür für Italianità.

Tücken der Rhythmen

Eine Überraschung mit Tücken bildet der nahtlose Übergang vom 1. Bild in der Mansarde zum 2. Bild im Quartier Latin. Durch das Herunterklappen der Mansardenrückwand befindet man sich unvermittelt im bunten Strassentreiben, das Sireuil und Lichtgestalter Hans-Rudolf Kunz in stimmiges Rotlicht tauchen.

Was szenisch überzeugt, wird musikalisch zur Gratwanderung: Welser-Möst musste an der Premiere all sein Können aufbieten, um die vielen rhythmischen Unsauberkeiten der Massen auszugleichen. Dann aber legte Michael Volle mit warmem vollem Bariton und die kleine Elena Mosuc einen Streit aufs Parkett, dass es eine Freude war.