Auf Sonnenblumen gebettet

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (06.07.2005)

La Bohème, 03.07.2005, Zürich

An den Zürcher Festspielen begeistert das Opernhaus mit Puccinis «La Bohème»

Alles stimmt an dieser «Bohème», die am Sonntag in Zürich den Höhepunkt der Festspiele markierte: Eine Inszenierung wie aus einem Guss und eine überzeugende musikalische Umsetzung unter Chefdirigent Franz Welser-Möst.

Es hätte eigentlich Marcello Viotti sein sollen, der diese Premiere dirigiert hätte. Viotti ist vor einigen Monaten gestorben. Er wurde an der Premiere durch eine Schweigeminute geehrt. Im gleichen Atemzug quasi konnte der Opernhaus-Chef Alexander Pereira bekannt geben, dass Franz Welser-Möst, der eine kurze Auszeit als Chefdirigent genommen hatte, nun für die nächsten sechs Jahre als Generalmusikdirektor ans Haus gebunden werden konnte (siehe Kasten).

An Kitschsauce gespart

So wie der Österreicher diese «Bohème»-Premiere dirigierte, kann man über diesen Schritt nur glücklich sein, umso mehr als auch das Orchester mit Dreiviertelmehrheit dahinter steht. So klang es denn auch aus dem Graben: Engagiert, wach und aufmerksam, reaktionsschnell und klanglich differenziert in allen Schattierungen zwischen kammermusikalischer Delikatesse und Vollfettsound. Denn Welser-Möst war klug genug, nicht den Sentiment-Kübel und die Kitschsauce pausenlos über Puccini zu giessen. Wie wir das von ihm kennen, suchte er sein Heil in einer überaus differenzierten dynamischen Gestaltung.

Immer wieder holte Welser-Möst in Piano- und Pianissimo-Regionen Anlauf, um die Höhepunkte der Puccini-Linien umso wirkungsvoller ausbreiten zu können. Immer wieder auch liess er die Klangfarben ausfächern und konnte sich dabei auf seine Orchestersolisten verlassen. Bloss die rhythmische Prägnanz und Konstanz, die könnte in den folgenden Vorstellungen noch gesteigert werden.

Balsam für die Stimmen

Eine solche Orchester-Basis war auch Balsam für die Stimmen der Sänger, denn sie haben in ihren kräftezehrenden, stets orchestral auch mitgeführten Linien normalerweise bei Puccini nur wenig Gelegenheit, in dynamischen Mittelregionen Vielseitigkeit zu beweisen.

Das Paradebeispiel für das Ausnutzen dieser Möglichkeiten war Marcello Giordani als Rodolfo, der zwar zu Beginn etwas rau klang und auch zwischendurch hin und wieder mit den Tücken seiner Partie kämpfte, der aber alle Ebenen der klangfarblichen und dynamischen Nuancen seiner Stimme auskostete und dadurch seine Partie sehr lebendig gestaltete. Dass er sich auf die Höhepunkte hin dann auch immer mal wieder mitreissen liess und die volle Kraft seiner beneidenswert geschmeidigen Stimme aufglühen liess, gehört mit zu den stilistischen Eigenarten von Puccinis Musik. Dirigent Welser-Möst hielt es ebenso, und die anderen Sänger, wenn sie denn gekonnt hätten, hätten nicht weniger aufgedreht.

In die Tasche gesteckt

Nicht dass sie abgefallen wären, im Gegenteil – doch von seiner Stimmkraft her steckte Giordani sie in die Tasche. Die chilenische Sopranistin Cristina Gallardo-Domas sang zum ersten Mal am Zürcher Opernhaus, aber ihre Mimi liess keinen kalt in dieser Vorstellung, so intensiv und berührend und lebensecht sang und gestaltete sie diese Partie. Dasselbe lässt sich von Micheal Volle in der Rolle des Malers Marcello sagen, während die Musetta von Elena Mosuc bei allem Bemühen um jugendliche Koketterie und mühelosen Sopran-Höhen doch etwas aufgesetzt und gemacht wirkte. Wie fast immer in Zürich waren die Nebenrollen exzellent besetzt. Und besonders herausragend gerieten den diversen Chören, inklusive einem Kinderchor, ihre anspruchsvollen Aufgaben im zweiten Akt.

Selbst diese schwierig zu inszenierenden Chor-Szenen mit ihren quirligen, ständig in Bewegung bleibenden Menschentrauben, inszenierte der in Zaire geborene belgische Regisseur Philippe Sireuil mit leichter Hand, grosser Natürlichkeit und unglaublichem Detailreichtum. Diese Feststellung gilt für die ganze Inszenierung und auch für das Bühnenbild von Vincent Lemaire: Rodolfos Studentenbude, das Café Momus und ein frühmorgendlich-verschlafener Bahnhof, alles so, wie man es sich vorstellt, wie es aus Henry Murgers Roman vor unseren Augen ersteht, mit Menschen aus Fleisch und Blut.

Detailliert, aber humorvoll

Sireuil hat fast schon minutiös der Partitur und dem Libretto entlang inszeniert, was bei dieser Oper auch etwas vom Klügsten ist, was man als Regisseur tun kann. Fast alles nämlich, die Bewegungen, Requisiten, Umgebungen, sind durch die Sätze der Darsteller vorgegeben und werden erst noch in Puccinis Musik häufig verdoppelt. Schon sehr lange habe ich keine Operninszenierung mehr gesehen, die so detailliert und genau und dabei immer wieder auch mit humorvollen Einfällen einfach souverän das auf die Bühne stellt, was drin ist im Stück. Selbst der Schluss, wenn sich nach Mimis Tod die Wände öffnen und den Blick auf hundert glühende Sonnenblumen freigeben, erhält durch die Enthaltsamkeit an Symbolismen davor in seiner ganzen Einfachheit seine beabsichtigte packende Wirkung und eindringliche Überhöhung dieses jungen Todes.

Wer wollte, konnte übrigens diese Premiere verfolgen, ohne einen Rappen Eintritt zu bezahlen. Um zwei Stunden zeitversetzt wurde sie nämlich auf die Grossbildleinwand auf dem Münsterplatz übertragen, wo auch während der Zürcher Festspiele an vier Abenden jeweils Höhepunkte des Programms im Opernhaus und in der Tonhalle bei freiem Eintritt unter freiem Himmel gezeigt wurden.