Und am Ende ein Tod mit Sonnenblumen

Thomas Meyer, Tages-Anzeiger (05.07.2005)

La Bohème, 03.07.2005, Zürich

Solide Inszenierung, vokale Höhepunkte: Puccinis «La Bohème» beschliesst die Saison am Zürcher Opernhaus.

Draussen zuvor das Gepränge mitsamt Riesenrad, und drinnen laufen danach die Seelendramen menschlicher Verzweiflung ab. Die Diskrepanz ist so alt wie das Genre, als die Renaissancefürsten sich an den Leiden hübscher Hirten und Hirtinnen ergötzten. Hier stirbt eine arme Grisette an Schwindsucht, so wie es in den «Scènes de la vie de bohème» des Henri Murger (der selber elend starb) beschrieben wird. Es gibt darin kaum sozialen Zündstoff, hier rührt uns eine unglückliche Liebesgeschichte. Die Aktualisierung von «La Bohème» rund um die Frage, was denn das für ein Leben sei, findet im Foyer oder draussen statt. Auf der Bühne selber ist gar nicht viel damit zu machen. Es wird denn auch wenig damit gemacht.

Die bohèmienhafte Künstlergruppe, die uns hier entgegentritt, gibt sich fast sympathisch beschwingt, selbst wenn sie ebenso einfallsreich wie hilflos an ihrer Armut leidet. Giacomo Puccinis Oper enthält viele komische Elemente, die umso schlüssiger in eine traurige Geschichte münden und die - das ist die zwingende Konsequenz des Librettos - tatsächlich von der Kunst handeln, denn um was anderes geht es beim Sterben der Mimi als um eine neue Version des Orpheus-Mythos: «Perchè son io il poeta, essa la poesia», singt Rodolfo über sich und Mimi. Liebt er sie wirklich? Oder nur ein Bild in ihr? Das Stück ist realistisch darin, dass sich dieser Orpheus von seiner Eurydike trennen will, weil er kein Geld hat, um sie vor dem Tod zu erretten. Im Übrigen aber ist Mimi ein weiteres jener Frauenopfer, die den Weg zarter Dichterseelen polstern. Und wie sie dahinstirbt! So zärtlich, so ruhig! Wie sie sich abwesend macht! Das ist schon die grosse, subtile Kunst Puccinis.

Existenz-Gewurstel

Auf diesen Schlusspunkt steuert der Abend hin, in der Musik wie in der Inszenierung. Wir kehren da in die Künstler-WG von Rodolfo und seinen Kumpanen, dem Maler Marcello (Michael Volle), dem Philosophen Colline (László Polgár) und dem Musiker Schaunard (Cheyne Davidson), zurück. Dort hatte alles begonnen, im kalten Winter: das Existenz-Gewurstel des agilen Künstlerquartetts, die Liebe Rodolfos zu Mimi. Am Schluss sind wir wieder dort. Alle versuchen, der Sterbenden noch etwas zuliebe zu tun. Sie sitzen um das Sofa, auf dem sie wegsinkt.

Das kommt an diesem Abend ohne viel Aufwand aus und hat eine leicht schmuddelige Patina, wie es sich gehört, ein bisschen pittoresk, aber wir sind halt punkto Schmuddeligkeit von Christoph Marthaler und Anna Viebrock verwöhnt. (Das wäre ein Regieteam gewesen!) Die Inszenierung des Belgiers Philippe Sireuil setzt auf Schlichtheit. Der Weihnachtsmarkt des zweiten Bilds wirkt zwar ein bisschen überdreht, es gleicht in dieser Neuinszenierung eher einer Silvesternacht, aber die karge Szene im dritten bei der Zollschranke mit dem daneben situierten Cabaret erweist sich als stimmungsvoll. Das Bühnenbild entwarf Vincent Lemaire. Die Kostüme (Jorge Jara) zeigen die Menschen in ihrer Unbeholfenheit und manchmal in ihrer Lächerlichkeit: kein falscher Glanz. Nur weniges wirkt karikierend, selbst der Hausbesitzer, der die Miete einfordert und den die vier Künstler übertölpeln, dauert einen fast.

Neue Perspektiven wird man dieser Arbeit kaum abgewinnen können, aber sie ist solide gebaut. Und Philipp Sireuil führt die Darsteller auf meist unaufdringliche Weise: Einzig die Mimi von Cristina Gallardo-Domâs wirkt vom ersten Auftritt an ein bisschen arg leidend, als habe sie es darauf angelegt, damit aufzufallen. Dafür hüstelt sie nur spärlich. Sonst gibt es schöne Details: zum Beispiel, wie sich die Männer, zumal Marcello und Rodolfo, immer wieder Zigaretten anzünden, die sie aber kaum fertig rauchen, weil jemand dazwischenkommt - ein kleines Leitmotiv. Überhaupt der Rauch: Rodolfo und Marcello verbrennen ein Manuskript im Ofen, dessen Rohr steil in den Himmel aufsteigt. Das ist weniger der Rauch der Vergänglichkeit als ein Gestus, der heikle Situationen überbrücken hilft. Der Griff zur Zigarette. Das zeigt Sireuil auf hintersinnige Weise, und in solchen Momenten spielt besonders Michael Volle als Marcello neben der vokalen auch seine ganze darstellerische Differenziertheit aus.

Ursprünglich sollte Marcello Viotti dirigieren. Er starb überraschend am 16. Februar. Seinem Andenken ist die Aufführung gewidmet. Der frisch zum Generalmusikdirektor erkorene Franz Welser-Möst übernahm die Leitung, und er geht das Stück nun mit der 75von ihm gewohnten Klangfeinheit und Bedachtsamkeit an, lässt keinen Schwulst zu und seziert doch nicht kühl.

Das Publikum klatschte einfach drein

Der Schluss gerade klingt berückend, und es gibt viele feine Stellen mit dem Orchester der Oper Zürich zu hören, viele grosse Aufschwünge auch. Trotzdem fehlte am Premierensonntag noch die letzte formale Durchgestaltung, ein paar Probetage halt. Puccinis Partitur nämlich enthält, so eingängig und schlüssig sie ist, zahllose Sprünge. Das mit Eleganz und auf organische Weise anzugehen, gelingt an diesem Abend noch nicht immer. (Aber wie sollte es etwa im ersten Bild funktionieren, wenn nach den Solopassagen dreingeklatscht wird? Puccinis Stücke sind keine Nummernopern!) Im Kontakt mit den Sängern führt das dazu, dass die dynamischen Spitzen nicht rund genug geformt sind, die Übergänge zwischen piano und forte. Der sehr ausdrucksstarke und eindrückliche Rodolfo von Marcello Giordani etwa springt so oft unvermittelt vom leichten Parlando in einen leidenschaftlich starken tenoralen Ton, den er aufs Schönste beherrscht. Auch der brillanten Musetta von Elena Mosu könnte in der Höhe eine gewisse Abfederung gut tun. Cristina Gallardo-Domâs überzeugt als anrührende, die ganze Spannbreite der Palette ausnutzende Mimi: keine besonders warme, aber eine wandelbare, feine und kräftige, ausdrucksreiche Stimme.

Und so könnte sich das Werk auf stimmige und bewegende Weise schliesslich zum Ende neigen, folgte da nicht ausgerechnet der einzige originelle Ausfall des Regieteams: Während Rodolfo vom Tod Mimis erfährt, öffnet sich die Wand der Mansarde und gibt den Blick auf ein Sonnenblumenfeld frei. Wos doch das ganze Stück über so fröstelig kalt war! Jedenfalls gucken die Blumen reichlich dumm aus der Wäsche.