Heisse Gefühle, die aber frieren lassen

Sibylle Ehrismann, Zürcher Oberländer (05.07.2005)

La Bohème, 03.07.2005, Zürich

Premiere von «La Bohème» im Opernhaus Zürich - Übertragung auf den Münsterplatz

Mit einer überzeugenden Premiere der Puccini-Oper «La Bohème» bewies der Dirigent Franz Welser- Möst, dass er für das Zürcher Publikum als Generalmusikdirektor des Zürcher Opernhauses eine exzellente Wahl ist.
Mitten im Sommer bringt das Opernhaus Zürich mit Puccinis «La Bohème» eine Oper über das Frieren. Und es nimmt mit dieser Festspiel-Premiere Abschied vom Schweizer Dirigenten Marcello Viotti, der diese Produktion eigentlich hätte dirigieren sollen. Das Premierenpublikum ehrte den mit erst fünfzig Jahren verstorbenen Maestro mit einer Gedenkminute.

Gleichzeitig konnte Intendant Alexander Pereira mitteilen, dass Franz Welser-Möst, welcher diese Produktion trotz grosser Arbeitsdichte übernommen hat, seinen Vertrag als Chefdirigent am Opernhaus Zürich um weitere sechs Jahre verlängert.

Freies Studentenleben

Wer fühlt sich nicht an die eigene Studienzeit erinnert, wenn er «La Bohème» sieht und hört. Die Enge einer Mansarde, die man mit Kommilitonen teilt, das ungebundene Leben ohne Geld, das Ausleben der Liebe ohne festere Bindung. Puccini hat aus diesem Stoff eine Oper gemacht, die mit der sterbenden Mimi eine desolate Note bekommt. Die «Bohémiens» bleiben Bohémiens, die Kälte wird tödlich, und die Welt nimmt ihren Lauf. Regisseur Philippe Sireuil betont dieses sinnenleerte «In sich Drehen» der Geschichte mit einem ziemlich kahlen, aber über die vier Bilder hinweg einfach und aussagekräftig wandelbaren Bühnenbild von Vincent Lemaire.

Wandelbares Bühnenbild

Die Mansarde im ersten Bild nimmt zwar die ganze Bühnenbreite ein, ist jedoch gegen hinten und oben geschlossen. Die Requisiten sind spärlich und stammen aus einem Brockenhaus: ein altes Sofa, auf dem auch geschlafen wird, ein Küchentisch mit vier Stühlen. Der kompositorisch nahtlose Übergang ins zweite Bild - dem turbulenten Volksfest mit Kinderchor - wird mit dem Fallen der Rückwand und dem Heben der Decke schnell bewältigt. Das dritte Bild, in dem Mimi versucht, ihren Rodolfo zurückzugewinnen, spielt wieder in ähnlichem Dekor wie das erste, nur dass es sich nun um einen verlassenen Bahnhof handelt, in welchem frühmorgens Nebelschwaden aufsteigen. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt zurück in die Mansarde, wo Mimi schliesslich stirbt.

Was bis dahin in sich schlüssig wirkt, wird dann aber am Schluss mit unnötigem Kitsch befrachtet: im Moment, als Mimis Tod eintritt, erscheint im Bühnenhintergrund auf einen Schlag ein grosses Sonnenblumenfeld. Mimis Sehnsucht nach echten Blumen wird im Moment der Erlösung Wirklichkeit - aber so plakativ und kitschig, das stört im Moment der Trauer von Rodolfo ungemein.

Musikalisch überzeugend

Musikalisch ist diese Zürcher «Bohème» von erstaunlicher Transparenz im Orchester und besonders stark in den leisen Tönen der Melancholie. Mit Cristina Gallardo-Domâs konnte die zur-zeit wohl gefragteste Mimi-Darstellerin verpflichtet werden. Unerhört ist ihre Mischung von schlichter Natürlichkeit in der Stimmführung und inniger lyrischer Kraft. Auch ihr subtiles Gehör für das Orchester ist einzigartig, weiss sie doch ihre Stimme differenziert einzubringen. Und daneben die temperamentvolle Musetta, welcher Elena Mosuc eine helle, vitale Strahlkraft und eine packende Bühnenpräsenz verleiht.

Marcello Giordani ist ein Tenor, der auch innige und leise Töne zu gestalten weiss. Als Dichter Rodolfo schwankt er angesichts seiner Liebe zu Mimi am stärksten zwischen Freiheitsdrang und Verantwortung. Und er vermag diesen Zwiespalt glaubhaft darzustellen. Die erste Begegnung der beiden und die musikalisch betörende Liebesbeteuerung ist von hinreissender Schönheit.

Aber auch Michael Volle setzt als Marcello und eifersüchtiger Freund Musettas mit seinem farbenreichen Bariton stark prägende Momente. Das «Bohémiens»-Quartett wurde stimmig ergänzt mit dem strahlenden Bass von Laszlo Polgar (Philosoph Colline) und dem komödiantischen Schaunard von Cheyne Davidson.

Puccini ganz transparent

Es bleibt, dem Orchester und Franz Welser-Möst für diesen hochkarätigen Premierenabend zu gratulieren. Die bildhafte und sehr subtile Instrumentationskunst von Puccini wurde wunderbar transparent gemacht. Eine derartige Nuancierung des Klangs, eine so vielsagend differenzierte Ausdruckspalette hört man in der Oper nur ganz selten. Auch wenn Welser-Möst vor allem im zweiten Bild etwas zu geradlinig durchzog und dadurch deutliche Wackler des Chores provozierte, Puccinis Musik konnte sich unter seiner Stabführung reichhaltig entfalten.