Der Künstler als Fokus der Kunst

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (05.07.2005)

La Bohème, 03.07.2005, Zürich

Neuinszenierung von Puccins «La Bohème» als Beitrag des Opernhauses zu den Zürcher Festspielen

Keinerlei Pariser Postkarten-Idylle, nicht einmal die Idylle der Innerlichkeit scheint In dieser neuen «Bohème» auf. Das Inszenierungsteam setzt ganz auf die Lebensrealität der Bohemiens, auf Armut und Desillusion und die illusorischen Träume von Liebe und einer besseren Zukunft. Ein grosser Erfolg.

Das Künstlertum als Lebensdevise oder zumindest der Traum davon, der Traum von ungebundener Freiheit, deretwegen der Bohemien die Beschränktheit, die Not und Bedürftigkeit der eigenen Existenz in Kauf nimmt - das alles ist Realität und Romantik zu gleichen Teilen. Jedenfalls in Giacomo Puccinis Oper «La Bohème». Zwar gibt es Zeugnisse des Komponisten, dass er selber, damals Student am Mailänder Konservatorium, in solch dürftigen, quälenden Lebensverhältnissen vegetierte. Genau davon, von solcher Erlebnisrealität, erzählen auch Henri Murgers Szenen «La vie de Bohème» von 1845/49, die dem Opernlibretto zugrunde liegen.

Doch, fünfzig Jahre später, als sich Puccini an die Komposition des Stoffes machte, kam noch ein anderes hinzu: der Künstlers als Fokus der Kunst. Um die vorletzte Jahrhundertwende entdeckte der Künstler nämlich sich selbst als Gegenstand seiner Kunst und machte Kunst zum Gegenstand seiner Werke. Künstler wurden zu Opern-Protagonisten, im «Andrea Chénier», in «Adriana Lecouvreur», auch in der «Bohème» von Leoncavallo oder später in Puccinis «Tosca». Es sind reale Künstler und gleichzeitig soziale Archetypen; aus ihrer dramatischen Lebensrealität wird in der Oper eine melodramatische.

Brockenhaus-Chic

Von diesem spannenden Zwiespalt lebt Puccinis «La Bohème», seit einem Jahrhundert eine der meistgespielten Opern überhaupt. Und es ist ein grosses Verdienst des Regisseurs Philippe Sireuil, dass in seiner Zürcher Neuinszenierung dieser Zwiespalt stets gegenwärtig ist, das Publikum zum Mitschmunzeln anregt und auch (wir haben es gesehen) zu heimlichen Tränen rührt. Vincent Lemaire hat Bühnenräume gebaut, die realistischer kaum wirken könnten - weil sie nicht einem platten Realismus frönen, sondern mit Möbeln und Gegenständen, die an den studentischen Brockenhaus-Chic von netten Hausbesetzern erinnern, Realität versinnbildlichen.

Erstes und viertes Bild spielen in einer engen Mansarde mit Blech- oder blindem Milchglas-Dach; das dritte Bild - das eindrücklichste - zeigt ein tristes Bahnhofsperron mit Billettschalter und Buffet. Besonders souverän gelingt der Wechsel vom ersten zum zweiten Bild. Nahtlos, ohne Umbaupause, geht es von der engen Mansarde direkt auf einen Platz im Quartier Latin, von der intimen Liebeszweisamkeit zum schreiend bunten Volkslärm auf dem Weihnachtsmarkt.

Leopardenpelz-Imitat

Warum die Leute, wo sie sonst die ganze Oper hindurch frieren, ausgerechnet hier draussen, am Heiligen Abend bei frostigen Wintertemperaturen, kurzärmlig und in kurzen Sommerröckchen daherkommen, weiss vielleicht der Kostümbildner Jorge Jara. Dennoch bewundert man sein fantasievolles Einfühlungsvermögen: Mimì in ihrer zu grossen, abgewetzten Lederjacke im dritten Bild, das hat kostümbildnerisch psychologische Dimensionen. Dasselbe gilt für die Leopardenpelz-Imitate Musettas, betont eng anliegend geschnitten: (lebens-)praller kann man sich diese Figur kaum vorstellen.

Mit adäquatem psychologischem Geschick führt Regisseur Philippe Sireuil die Figuren. Fast ganz ohne Klamauk in den ausgelassenen Szenen des ersten und vierten Bildes; mit einer zuweilen magistralen Zärtlichkeit im dritten Bild, das die Vereinsamung dieser Bohemiens zeigt, denen selbst die Liebe verödet in ihrem von einer unerträglichen Leichtigkeit geprägten Dasein. Genau hier scheint denn auch plötzlich die aktuelle Lebensgegenwart der heutigen jungen, desillusionierten Generation auf.

Wie einst bei Karajan

Auch musikalisch überzeugt diese Neuinszenierung. Franz Welser-Möst, der neu gekürte Generalmusikdirektor am Opernhaus, legt den Sängern einen wunderbar weich flauschigen Klangteppich zu Füssen, wohlklanggesättigt und gleichzeitig mit herben dramatischen Akzenten durchwirkt. Sentiment und Raffinement halten sich im Orchesterklang subtil die Waage (wie einst bei Karajan), Poesie und Prunk der Klangfarben ebenfalls. Das Seelenvolle der Musik, der breite Strom des Melos, wird nie zu tränenseligem Schwall aufgeblasen, sondern mit ebendieser fast unerträglichen Leichtigkeit gekostet.

Ein grosser Erfolg auch für die Sängerinnen und Sänger, vom Publikum lange und frenetisch beklatscht. Marcello Giordani verfügt als Rodolfo über eirien kernig strahlenden Forte-Glanz, agiert wendig und sehr engagiert und erlaubt sich immer wieder leisere, reflexive Zwischentöne, dann nicht immer ganz frei von Druck und Verschleierung. Cristina Gallardo-Domâs ist eine unmittelbar anrührende Mimi, die allein schon durch die Unaufdringlichkeit ihrer Bühnenpräsenz fesselt, aber auch stimmlich mit gewaltkräftigen Ausbrüchen imponiert.

Das i-Tüpfelchen

Cheyne Davidson als markiger Schaunard, Làszlò Polgàr als philosophisch ab- oder- aufgeklärter Colline und Michael Volle als überaus wendiger, sehr impulsiver und witziger Marcello ergänzen das Männerquartett der Bohemiens vortrefflich. Das i-Tüpfelchen indes setzt ihnen Elena Mosuc als Musetta auf: draufgängerisch, dass manchmal die Fetzen fliegen, temperamentvoll im Gesang, kokett und selbstsicher im Auftreten - und zum Schluss, im vierten Bild, von einer fast rührenden Gutherzigkeit. Das könnte Anzeichen dafür sein, dass nach dem tragischen Tod Mimìs nichts mehr sein wird, wie es war. Auch für sie.