Zwischen Gefühl und Moderne

Wilhem Sinkovicz, Die Presse (05.07.2005)

La Bohème, 03.07.2005, Zürich

Puccinis "Bohème" in Zürich. Franz Welser-Möst las eine viel geprüfte Partitur neu.

Am Nachmittag war bekannt gegeben worden, dass Franz Welser- Möst seine Arbeit in Zürich fortset zen wird: Bis 2012 wird er als Generalmusikdirektor dem Opernhaus zur Verfügung stehen. Am Abend demonstrierte er, was das bedeuten könnte: Die Premiere von Puccinis "Bohème" wurde vor allem dank der enorm differenzierten Orchesterleistung zu einem bemerkenswerten Ereignis.

Tatsächlich liest dieser Dirigent Partituren offenbar genauer als die meisten seiner Kollegen. Wenn er ein viel gespieltes Werk neu einstudiert, dann sichert das auch jenem Hörer, der die "Bohème" Dutzende Male gehört hat, völlig neue Klangerlebnisse. Puccinis Werk ist in Zürich nun alles andere als ein rührseliger Melodienreigen in weich wattiertem Instrumentalgewand. Unter Welser-Mösts Führung zeichnen die Musiker knappe, klare Konturen, skizzieren mit dem Scharfblick und Witz eines Karikaturisten Charakterbilder der einzelnen Bohemiens und ihres von Ironie, Zynismus und frechem Umgangston geprägten Lebens.

Erst der Auftritt Mimis zeigt die zartfühlende Seite des Komponisten: Mit einem behutsam gehauchten Streicherakkord wendet sich der Charakter der Musik - und die Gefühlswelt des tenoralen Helden: Selten erlebt man einen einzigen musikalischen Moment so intensiv wie diesen unter den Händen der Zürcher Musiker.

Extreme Stimmungswelten, aber auch extreme dynamische Kontraste charakterisieren Mösts Puccini-Lesart, die ernst nimmt, was in den Noten steht, und nicht nivellierend das orchestrale Geschehen dem vorgeformten Bild eines spätromantischen Klangideals anzupassen sucht. Puccini war ein wacher Zeitgenosse der frühen Moderne, ein Vorreiter auch der wahrhaftigen, von Sekunde zu Sekunde flexiblen, aufmerksam alle Seelenregungen, aber auch alle naturalistischen Details widerspiegelnden Kompositionskunst.

So betrachtet, führt von der "Bohème" ein gerader Weg zum "Wozzeck". Ohne dass freilich die Italianità zu kurz käme, wenn Sopran und Tenor einander ihre Liebe gestehen. Dieserart genau gelesen, entpuppt sich "La Bohème" als reiches, aufregendes, in jedem Moment fesselndes Drama. Das Zürcher Orchester erzählt es uns en miniature ebenso beredt wie in den großen, zarten Melodiebögen, die es im entscheidenden Augenblick auch zu spannen versteht.

Das gibt den Sängern die Chance, ihre Stimmen aufblühen zu lassen, wovon Marcello Alvarez als Rudolf, Michael Volle als Marcello und Cristina Gallardo-Domas als Mimi ausgiebig Gebrauch machen. Wobei die Gallardo-Domas, anders als ihr tenoraler Widerpart, auch die Kunst der vokalen Feinzeichnung beherrscht. Sie gibt in der stimmigen, präzis die Handlung erzählenden Inszenierung Philippe Sireuils eine fragile Mädchenfigur, verletzlich und nur in raren Glücksmomenten rosig aufblühend.

Bewegend hilflos ergibt sie sich im dritten Bild in ihr Schicksal, berührend schlicht dämmert sie zuletzt dem Tod entgegen, gar nicht mehr körperlich, so scheint es, in den Armen des Geliebten. Dem stellen die Bohemiens, allen voran die quicklebendige Elena Mosuc als Musetta, das pralle, liederliche, amüsant haltlose Leben entgegen, das in einem Maskenfest kulminiert, in dem auch der Zürcher Chor seine mitreißenden Auftritte hat, von Welser-Möst in zündenden Attacken vorangetrieben.

Das ist, alles in allem, eine Aufführung, die optisch wie akustisch "La Bohème" auf den Punkt zu bringen sucht - heutzutage also eine ziemlich ungewöhnliche Angelegenheit. Umso erfreulicher, dass die Produktion mit Mikrofonen und Kameras aufgezeichnet wird, um in DVD-Gestalt die Zürcher Errungenschaften in die Welt zu tragen. Auf dass man allenthalben erfährt, warum hier ein Erfolgsmodell prolongiert worden ist.