Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (30.05.2005)
Fast hundert Jahre dauerte es, bis die „Die Zarenbraut“ von Nikolai Rimski-Korsakow wieder in Zürich auf dem Programm stand. Dieses Werk, das in Russland zum Standard-Repertoire gehört, wird in unseren Breitengraden nur äusserst selten aufgeführt. Woran mag das liegen? An der Musik bestimmt nicht! Wohl schon eher am Libretto. Eine Bekannte meinte: „Jetzt weiss ich wieder, was mir an den russischen Opern missfällt – wie die Männer mit den Frauen umgehen!“ Die uns fremde Mentalität ist sicher ein Handicap für diese Oper, und trotzdem… Das Premierenpublikum war von der gestrigen Produktion mehr als nur angetan.
Für mich war es die erste Begegnung mit Rimski-Korsakows Opernschaffen. Ich habe daher absolut keine Vergleichsmöglichkeiten, zumal es auch auf dem CD-Markt meines Wissens nicht viele Einspielungen gibt; mir ist nur bekannt, dass Gergiev eine Aufnahme gemacht hat.
Vladimir Fedosejev ging das Werk zügig, mit flottem Tempo an. Sehr schön war in der Ouvertüre die Dynamik herausgearbeitet, auch wenn ich die Lautstarke gesamthaft als etwas zu hoch empfand (selbst der Chor wurde anschliessend manchmal überdeckt). Das Orchester spielte mit Verve und Engagement, offensichtlich ab und zu zu ungestüm, hörte man doch hin und wieder ein „Psst!“.
Stimmlich konnte man mit dem Abend durchaus mehr als zufrieden sein, sofern man nicht dasselbe Problem wie ich mit vibratoreichen Stimmen hat. Allen voran überzeugte Liliana Nikiteanu in der Rolle der Ljubascha, auch wenn sie in den Höhen einige Schwierigkeiten aufwies. Berückend waren ihre Piani, die der Figur zu einer grosse Tiefe verhalfen. Das a-cappella-Lied gleich am Anfang ihres Auftrittes war verständlicherweise etwas von Nervosität geprägt, aber sehr berührend gestaltet. Nikiteanu konnte alle Facetten des kontroversen Charakters ausspielen. Annähernd so gut gestaltete Vladimir Stoyanov die Partie des „Bösewichts“ Grigori Grjasnoj, der getrieben von Ehrgeiz, verletztem Stolz und unerwiderter Liebe zu Marfa diese - unwissentlich - vergiftet, indem er glaubt, ihr einen Liebestrank zu verabreichen. Pech für alle, dass Ljubascha aus verschmähter Liebe zu Grigori den Trank austauscht, um ihre vermeintliche Nebenbuhlerin auszuschalten. Stoyanovs Stimme würde ich zwar nicht als schön bezeichnen, aber sie hat Charakter. Er bewältigt die Partie spielend und verkörpert die Rolle auch auf imponierende Weise. Maya Dashuk - die „Lichtgestalt“ des Stückes - ist eine bezaubernde Person, die mit viel Liebreiz die Rolle der umworbenen Marfa interpretiert. Marfa liebt seit Kindestagen Iwan Lykow (Alexey Kosarev, dessen Tenor gewöhnungsbedürftig ist und der mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte). Grjasnoj verliebt sich in sie (die offensichtlich nichts davon weiss), bietet sich sogar als Trauzeuge für Lykow und Marfa an. Fatalerweise hat aber Iwan der Schreckliche aus 2000 Frauen Marfa als seine zukünftige Gattin auserwählt. Natürlich lehnt sich im Russland jener (nur jener?) Zeit niemand dagegen auf, und jeder fügt sich dem Diktat des Herrschers. Dashuk konnte mich schon als Tatjana stimmlich nicht voll überzeugen; leider tat sie es auch hier nicht. Allerdings soll sie während der Generalprobe sehr viel sicherer gewesen sein. Vielleicht lag’s wirklich an der Premierennervosität (für alle Sänger war’s ein Rollendebut), dass die Stimme extrem unruhig und vibratoreich war, so dass man bisweilen glaubte, es hapere gar an der Intonation. Die „Wahnsinnsszene“ (man kann Marfa durchaus als russische Lucia ansehen) gestaltete sie sehr eindrücklich. Auch als naives, fröhliches, liebreizendes Mädchen vom Land war sie beeindruckend. Der böse deutsche Arzt Bomeli (eigenartiger Name für einen Deutschen!), den doch alle für ihre Zwecke (miss)brauchen, wurde mit viel Engagement von Martin Zysset verkörpert. Leider kann ich mit der Stimme nichts anfangen, sie erscheint mir - bis auf wenige Ausnahmen - immer gleich, ohne grosse Differenzierung, meist zu stentorhaft. Die kleineren Rollen wurden alle sehr gut besetzt, bis auf Pavel Daniluk als Skuratow, der für mich ganz einfach unerträglich ist mit seiner nasalen Tongebung und vollkommen undifferenzierten Interpretation.
Trotz dieser Kritikpunkte war die musikalische Darbietung ausgewogen und wird im Verlaufe der Serie sicherlich noch um etliches besser.
Die Inszenierung von Johannes Schaaf war wohlüberlegt, sparsam, detailgerecht, mit einer guten Personenführung. Im Bühnenbild von Erich Wonder wurden Innen- und Aussenräume sichtbar, Seelen- fast noch mehr als realistische Räume aufgedeckt. Die Lichtregie war grandios. Wie immer bei Wonder war auch die Farbgebung eine Augenweide. Schleier mit Projektionen gaben dem Raum Tiefe, auch wenn die Schleier - je nachdem, wo man sitzt - ihre Tücken haben. Von meinem Platz aus erkannte man leider nicht alles. Trotzdem vermochte die Inszenierung einen in den Bann zu ziehen, die Gedanken anzuregen, den Blick auf die Protagonisten zu fokussieren. Es wurde zu keinem Zeitpunkt langweilig.
Ein herzlicher Applaus mit vielen „Bravi“ krönte die Aufführung (kein einziges Buh fürs Regieteam!). Für mich die „Palme“ geholt hat aber ganz sicher die Musik von Rimski-Korsakow. Er war froh, kein dramatischer Komponist zu sein und stolz darauf, ein Lyriker genannt zu werden, „der die Musik zwar der u.U. dramatischen Situation anpasst, sie aber der Szene nicht opfert“. Diese Kantabilität war für mich die Überraschung des Abends. Und irgendwie verstehe ich nicht so recht, warum diese Oper nicht häufiger aufgeführt wird.