Bühnen-Exzess in Basel

Frieder Reininghaus, Deutschlandfunk (28.11.2006)

Don Carlos / Don Carlo, 26.11.2006, Basel

Calixto Bieito ist für seinen bisweilen ins Obszön-Obsessionelle reichenden Bühnenrealismus berühmt und berüchtigt. Nun hat er sich in Basel an der Oper "Don Carlos" vergreifen dürfen, frei nach dem Vorbild von Friedrich Schiller und der Musik von Giuseppe Verdi.

Der Dank des Theaters galt zuvorderst dem Autohaus Minigolf GmbH und war durchaus angezeigt. Die beiden zur Verfügung gestellten Modelle, von denen eines in der Erregung des Aufruhrs gegen den mit harter Hand regierenden habsburgischen Monarchen Philipp II. umgestürzt wird, gehen am Ende in Flammen auf. Das Team um den Technischen Direktor Joachim Scholz hat fantastische Arbeit geleistet. Es ließ den Bühnen-Exzess von Calixto Bieito mit der von Balácz Kocsár weithin eher moderat gesteuerten Musik Bühnenwirklichkeit werden.

Der Herold des Königs übernimmt auch die Rolle des Comte de Lerme und die des Scharfrichters. Er tritt als Todesengel auf einen von Parkbänken gesäumten Platz vor einer Bahnstation in Madrid: Ehern glänzend prangen die Lettern "Felipe II." an ihrer Front. Nichts in diesem mäßig wirtlichen Warte-Areal der Neuzeit erinnert an das Blut und die Tränen, die hier einst flossen.

Der durchtrainierte schwarze Bote mit Schwert und schwarzen Schwingen setzt einem jungen Mann in Turnschuhen mit Rucksack zu. Wir ahnen, dass es sich um den vom Schicksal noch unbeschwerten Don Carlos handelt. Der hat sich zuhause davongeschlichen, um jene junge Frau zu sehen, die ihm versprochen ist: Elisabeth von Valois. Die tritt mit den Worten "Ich hab' den Weg verloren" wie Kaiserin Sissi auf den Plan. Ihr Page schwebt als weißer Sonntagsengel über dem Platz, der im Laufe des Abends zwar verschieden möbliert wird, aber durchgehend als Grundmuster für die unterschiedlichsten Innen- und Außenszenen dient. Als wäre sie die Himmelskönigin selbst und einem iberischen Altarbild entstiegen, spendet die Sopranistin Mardy Byers dem tapsig-begehrlichen jungen Mann einen kräftigen Strahl aus der linken Brust. Frisch ins Gesicht.

Da prallte zum ersten Mal die Mentalität des genau interpretierenden und frei assoziierenden Hedonisten Calixto Bieito, eines Erben des spanischen Barock, auf die Nachfahren der wortgläubigen und bilderskeptischen Basler Reformatoren Oekolampad und Bucer. Auch des weiteren blieb das Verhältnis von Regie und Rezeption nicht ganz spannungsfrei. Hartnäckige Zwischenrufe und lautstarke Abgänge aus dem Auditorium deuteten den Unwillen an. Dessen Bekundungen nahm der Regisseur nach dem feurigen Ende der blutigen Erinnerung an die in Wirklichkeit noch ungleich grässlichere reale Geschichte so subtil genießend entgegen wie sein Marquis Posa die Messerschnitte. Den Tod in der Zelle des wegen seiner aufrührerischen Wallungen inhaftierten Infanten zeigt der elegant-distinquiert singenden Marian Pop in der Pose des San Sebastian: Kein heimtückischer Schuss fällt den aufklärerischen Dandy, sondern er empfängt tödlichen Wunden -abweichend von Schillers Konzept - durch die verschmähte Prinzessin Eboli, und die hat bekanntlich scharfe Pfeile im Köcher. Diese Eboli ist in Gestalt und mit der Stimme von Leandra Overmann ohnedies eine Wucht.

Don Carlos hat die meiste Zeit in einem fahrbaren Käfig zu verbringen. Das erscheint als Theaterchiffre ebenso triftig wie die Schulbank, die sich zur Erinnerung an glückliche Jugendfreundschaftstage mit dem Marquis Posa einstellt - immer noch auf jenem Platz mit den Palmen und ungemütlichen Wartebänken. Auf ihm werden die niederländischen Gesandten als Gefangene herangekarrt, gedemütigt und entkleidet. Hingerichtet werden sie, durch Messerstiche des Todesengels in die Nacken, erst während des großen Monologs des großen Königs. Der klagt erst seine Einsamkeit, fällt aber nebenbei über die schlafende Gattin her, dann empfängt er den Großinquisitor in seinem Schlafgemach.

Calixto Bieito sah Verdis Große Oper als "Stück über Opfer". Diese höchst legitime Sicht setze er konsequent ins Werk, auch die Libertà-Idee, die nicht nur als Parole auf einem rasch ausrollbaren Transparent wiederkehrt. Freiheit hat ihren Preis. Bieitos Carlos ist am Ende bereit, ihn zu entrichten. Die plötzlich wie eine Studentin gekleidete Elisabeth legt ihm einen Sprenggürtel um und entsendet ihn zum Himmelfahrtskommando. Sein Ziel ist die Bahnstation Felipe II. Dann macht es puff.