Die Schöne und die Bestien

Herbert Büttiker, Der Landbote (31.05.2005)

Zarskaja newesta, 29.05.2005, Zürich

In Russland gehört «Die Zarenbraut» zum Standardrepertoire, im Opernhaus Zürich wird sie erstmals aufgeführt: ein Meisterwerk, das auch begeistert, wo es sich um alles andere als ein «Heimspiel» handelt.

Iwan der Schreckliche sucht sich eine Braut und wählt die Kaufmannstochter Marfa aus zweitausend Mädchen aus. Das adelt die Eltern und ist schrecklich für die Tochter, die ihren Verlobten Iwan Lykow seit Kindertagen liebt. Aber das Schreckliche trägt noch andere Namen. Grigori Grjasnoj liebt Marfa ebenfalls und will sie mit einem Liebespulver betören, die schöne Ljubascha, die sich von ihm verraten sieht, tauscht die «Arznei» gegen ein Gift aus, das die Rivalin hässlich machen soll und sie wahnsinnig werden lässt. Aber auch die schlimmen Verirrungen der Liebe sind noch menschlich und nichts gegen den Terror der Opritschniki, der völlig enthemmten Geheimpolizei des Zaren.

Wüstes Leben, reine Liebe

Zu den Opritschniki gehört auch Grjasnoj, der Marfas Liebreiz verfällt und sich ändern möchte. Der Abschied vom wüsten Leben und die Sehnsucht nach dem Heil einer reinen Liebe treiben ihn um. Noch einmal also – 1898 wurde «Die Zarenbraut» vom Ensemble der Russischen Privatoper von Sawwa Mamontow uraufgeführt – betritt eine jener romantischen Baritonfiguren die Szene, wie sie, Erlösung suchend und dem Untergang geweiht, die Oper des 19. Jahrhunderts prägen. Ein wenig monochrom, aber mit kernigem Griff, markiger Höhe und dem finsteren Elan gibt Vladimir Stoyanov dieser Figur die starke Kontur, die sie ins Zentrum der Oper rückt – gleich von Beginn weg mit der Arie, welche die Seelenlage des Zerrissenen breit exponiert. Dass er bei allem Selbstmitleid den gewohnten Gewaltreflexen des Opritschniks treu bleibt, hält die Figur in Spannung bis zum mörderischen Schlussakt.

In der Zürcher Inszenierung tauchen die Opritschniki in schwarzer Ledermontur und in Hundemasken auf: Johannes Schaaf (Inszenierung) und Erich Wonder (Bühnenbild) transformieren das Historische ins Märchenhafte. Halluzinatorisch verfremdet und mit Symbolik durchsetzt sind die Räume, übergross das Mobiliar, im Stilmix verunklärt Ort und Zeit des Geschehens. Als Alternative zur (gefürchteten) Folklore also nicht der Versuch zur Aktualisierung und Politisierung der Oper, sondern die surrealistische Fabel zwischen Traumspiel und hollywoodesker Fantasy – Andrea Schmidt-Futterers aufwendige Kostümarbeit hat durchaus auch die entsprechende Kitschqualität.

Die Meute und das schöne Tier

Solche Poetisierung mag nicht in allen Details gleichermassen zu überzeugen, aber mit dem wunderbar schlüssigen Finaltableau erhält sie eine eindrückliche Bestätigung aufs Ganze. Und sie hat ihre Gründe. Rimski-Korsakow, einst der Orchesterexperte des «Mächtigen Häufleins» der Opernrealisten um Mussorgski, hat in seinem eigenen Schaffen, ja auch häufiger zu phantastischen Stoffen gegriffen als zu realistischen, und auch in der «Zarenbraut» ist die Politik nicht Aktionsfeld: Die Opritschniki, deren Wappentier der Hundekopf war, bleiben Staffage – wichtig als Symbol wüster Triebhaftigkeit und böser Männerkumpanei: Der geile Chor dieser «Meute» am Schluss des 2. Aktes – einer von mehreren ungemein starken Auftritten des Zürcher Opernchors – liefert dazu mit Trommelwirbeln das Klangsymbol.

Zu ihrer Beute gehört Ljubascha. Als das Tier, das sie sich halten, tritt sie im Pelz auf. Gleichsam nackt, ohne Orchesterbegleitung, singt sie dann aber ein Lied, das vom ewigen Leid der um die Liebe betrogenen Frau handelt, und es ist ein erster Höhepunkt der Aufführung, wie Liliana Nikiteanu hier ihre Stimme entfaltet und im weiten Melodiebogen ein Crescendo aus Klangfülle und Schmerz gestaltet. Ihren zweiten grossen Auftritt hat sie dann im dritten Akt, wenn sie sich dem Arzt verkauft, um zum Gift zu kommen, und hier erweist sich ihr lyrisch strömender Mezzosopran auch der Dramatik von Eifersucht und Selbstanklage souverän gewachsen.

In Szenen wie dieser zeigt sich der Orchesterexperte Rimski-Korsakow als Musikdramatiker erster Güte. Das Orchester der Oper Zürich wird von Vladimir Fedoseyev denn auch mächtig in Schwung versetzt – gern auch in einer Lautstärke, gegen die sich die Sänger behaupten müssen. Das Ziel des Komponisten, eine «Oper im kantablen Stil» zu schreiben, geht da manchmal vergessen, aber oft wird es evident und von Fedoseyev in glücklicher Verbindung von Zügigkeit und Sensibilität angesteuert: in der farbig-lockeren Orchestration, in Genremalerei und im leichten Arienstil, in dem das junge Paar Marfa und Iwan charakterisiert wird.

Der Tenor von Alexey Kosarev, etwas steif im ersten Akt, gar spannungslos im dritten, scheint die Balance für diese Partie freilich noch nicht ganz gefunden zu haben. Als Figur, die im Geschehen völlig passiv ist, bleibt er aber wohl zwangsläufig etwas blass. Anders Maya Dashuk, die Marfa in zwei Auftritten zur grossen Figur machen kann: Der fröhlich-helle Jungmädchencharme scheint ihrem Sopran genauso natürlich zu liegen wie die zerbrechliche, aber intensive Leichtigkeit der Wahnsinnigen. Auch darstellerisch macht sie diese Szene zu einem Ereignis, das allein schon die Inszenierung der «Zarenbraut» rechtfertigt.

Eine Ensemble-Oper

Hinter Schleiern, im Halbschatten oder auch im Schlaglicht – in der Personenführung entwickelt die Inszenierung die spannenden Momente nicht nur in der fulminanten Schlussszene. Das Ensemble, das durchgehend mit Rollendebüts aufwartet, kommt vielfältig zum Zug, so Martin Zysset, der den Arzt mit scharfem Tenor als hoffmannesken Psychopathen zeichnet. Schön ins helle Licht gerückt ist die Auftrittsszene Marfas mit ihrer Freundin Dunjaschas (Kathrina Peetz), und eine ganze Reihe weiterer Figuren tragen zu wohl modellierten Genreszenen bei, so etwa Alfred Muff als väterlich-warmherziger Sobakin oder Margaret Chalker als rührige Mutter.

Wichtig sind sie alle in einem Werk, das musikalisch die Ensembletechnik bis hin zum Sextett meisterlich pflegt. Rimski-Korsakow kann sich zwar manchmal auch akademisch gebärden, aber seine Musik ist inspiriert und von umfassender Menschlichkeit geprägt: Schon zehn Jahre liegt die faszinierende Begegnung mit seiner Legenden-Oper «Kitesch» in Bregenz zurück, öfters auf westlichen Bühnen zeigt sich «Der Goldene Hahn». Dass Rimski-Korsakow ins internationale Repertoire gehört, bestätigt nun auch die Zürcher «Zarenbraut» – nicht zuletzt durch den spontanen Erfolg beim Premierenpublikum.