Frauenopfer

Alfred Zimmerlin, Neue Zürcher Zeitung (31.05.2005)

Zarskaja newesta, 29.05.2005, Zürich

Rimski-Korsakows «Zarenbraut» im Opernhaus Zürich

Schaurig geht es zu in Nikolai Rimski-Korsakows Oper «Die Zarenbraut» (1899). Doch der Regisseur Johannes Schaaf und der Bühnenbildner Erich Wonder haben - mit wesentlicher Hilfe der Lichtgestaltung von Martin Gebhardt - im Zürcher Opernhaus gezeigt, dass sie auch mehr sein kann als eine der üblichen Mären der Zeit, die einem Gänsehaut bereiten. Die Opritschniki, die Terrorgardisten von Zar Iwan IV. («der Schreckliche»), mit ihren schwarzen Ledermänteln und den Hundekopfmasken sind omnipräsent. Jeder bespitzelt jeden, die Atmosphäre färbt auf das Privatleben ab und findet dort Nachahmung. Da ist der Anführer der Opritschniki, Maljuta, stets dazu bereit einzugreifen. Grjasnoj möchte seine Konkubine Ljubascha loswerden und die schöne Kaufmannstochter Marfa mit einem Liebestrank aus der Küche des Zauberdoktors Bomeli für sich gewinnen. Marfa hat sich ihrerseits dem Bojaren Lykow versprochen, wird aber vom Zaren als Braut erkoren. Doch zuvor hat Ljubascha den Zaubertrank vertauscht, und Marfa wird wahnsinnig, Lykow als vermeintlich Schuldiger angeschwärzt und hingerichtet, Grjasnoj erdolcht Ljubascha und wird darauf seinerseits als Hauptschuldiger verhaftet.

Das Libretto hat trotz der etwas kruden Konstruktion seine Qualitäten. Vor allem ermöglichte es dem Komponisten, dramaturgisch zu experimentieren. Rimski wartet, gibt den gesanglich- lyrischen Verströmungen viel Zeit, um dann plötzlich im entscheidenden Moment die Atmosphäre umschlagen zu lassen und das Tempo anzuziehen. Er erprobt interessante Simultanszenen, arbeitet unaufdringlich mit Leitmotiven. Die Musik ist voll Farbe, auch im Schrecklichen noch gediegen und - obzwar die Phrasen mitunter etwas gar schematisch geformt sind - nie langweilig. Vor allem gibt er dem Gesang viel Raum. In langen Soli kann Liliana Nikiteanu als Ljubascha alle Ausdrucksregister ihrer wunderbaren Stimme zeigen, und sie stellt ihre emotionellen Verstrickungen berückend dar. Maya Dashuk gibt Marfa etwas Kindliches, und es kann einem kalt den Rücken hinunterlaufen, wenn sie mit ihrem schlanken Sopran mezza voce ihren Wahnsinn zum Ausdruck bringt. Das ist ein Frauenopfer, das in einer totalen Männerwelt dargebracht wird.

Vladimir Stoyanov versteht es, aus den Gesangslinien Grjasnojs eine differenzierte Person zu formen, die eine Veränderung durchmacht und am Schluss an der eigenen Schuld verzweifelt. Alfred Muff gibt Marfas Vater Sobakin eindrücklich, ebenso Pavel Daniluk den Maljuta, einzig die Figur von Lykow bleibt bei Rimski - und auch teilweise in der Gestaltung von Alexey Kosarev - etwas blass. Doch da sind auch wunderbar komponierte Ensembles unterschiedlichster Art. Und immer wieder prächtige Auftritte des von Jürg Hämmerli vorbereiteten Chors des Opernhauses Zürich. Es ist genau dieses differenzierte Wechseln zwischen intimem Ausdruck und grossem, gleichsam «öffentlichem» Klang, welches das Werk packend macht. Man versteht, dass Rimski selber die «Zarenbraut» für seine gelungenste Oper hielt. Mit Vladimir Fedoseyev wird der Abend auch von einem Dirigenten geleitet, dem das Werk hörbar liegt und dem es ein Anliegen ist, diese im Westen wenig bekannte Oper einmal anders zu zeigen.

Und dann dieses Bühnenbild. Wonder arbeitet fast exzessiv mit Schleiern, die sich je nach Beleuchtung verändern. Allerdings: Obwohl diese Technik abgenützt wirkt, gelingt es ihm, neue Bühnenlandschaften zu kreieren. Es sind zeitlose Landschaften, manchmal wirklichkeitsnaher, dann wieder abstrakter. Raffiniert sind es gleichzeitig realistische Handlungsorte und innere Seelenbilder. Ihre Perspektive ist verzerrt, schief sind die Möbel, Vordergrund und Hintergrund verwischen sich in verblüffenden optischen Täuschungen. Mitunter erinnern diese Aussen- und Innenräume frappant an Bildfindungen des frühen Kasimir Malewitsch. Johannes Schaaf seinerseits legt durch eine in ihrer Präzision beeindruckende Personenführung Schichten in der «Zarenbraut» frei, die man dem Werk kaum zugetraut hätte, die aber durchaus darin angelegt sind. Ihm geht es hier also um alles andere als aufgesetztes Regietheater, das ist Werkinterpretation im besten Sinne des Wortes, differenziertes, immer spannendes Theater, das einen nie kalt lässt. Klug arbeitet auch er mit Vorder- und Hintergrund, kann damit ein Geschehen durch simultane Konstellationen vertiefen, ohne didaktisch zu werden. Wie er beispielsweise zur häuslichen Szene bei Sobakin im dritten Akt gleichzeitig im Hintergrund die brutale Brautschau des Zaren zeigt, geht unter die Haut. Die Zürcher Inszenierung der «Zarenbraut» könnte tatsächlich ein neues Kapitel in der Rezeptionsgeschichte dieses Werkes aufschlagen.