Aus Russlands finstersten Zeiten

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (31.05.2005)

Zarskaja newesta, 29.05.2005, Zürich

Das Zürcher Opernhaus inszeniert mit der «Zarenbraut» ein veritables Gift- und Dolch-Drama

Am Sonntag hat in Zürich ein selten zu hörendes Werk Nikolaj Rimski-Korsakows Premiere gefeiert: «Die Zarenbraut» erzählt eine haarsträubende Geschichte, die Regisseur Johannes Schaaf sehr ästhetisch anrichtete.

Zar Iwan der Schreckliche hat viele Literaten fasziniert. Auch die «historische Tragödie» von Lew Mei «Die Zarenbraut» bedient sich als Hintergrund dieser Zeiten und der Geschichte um die mysteriöse Erkrankung der dritten Frau von Zar Iwan dem Schrecklichen zu den Zeiten seines Terror-Regimes in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Mei hat daraus eine haarsträubende Gift-Geschichte konstruiert, die sämtliche menschlichen Leidenschaften umfasst, von Liebe und Verlangen über Rache und Misstrauen bis zu Mord und Wahnsinn: Gleich zwei grandiose Schuldeingeständnisse und eine hinreissende Wahnsinnsszene umfasst der Schlussakt. So was ruft doch nach Oper.

Behutsames Volksmusikkolorit

Der Komponist selbst hielt von seinen 15 Opern dieses 1899 uraufgeführte Stück für sein bestes – eine Ansicht, die das heutige russische Publikum teilt. Von einem Standpunkt, der Musikgeschichte als Weiterentwicklung und ständiges Weiterverschieben von Grenzen auffasst, ist diese Oper zweifellos eher konventionell. Besonderes Kolorit erhält das Stück durch Anklänge an die Harmonik und Instrumentierung russischer Volksmusiken, obwohl Rimski-Korsakow (1844-1908) hier weit weniger als sonst in seinen Werken auf genuine Volksmelodien zurückgriff. Ansonsten bleibt sie hinter dem zurück, was in Deutschland und Frankreich, aber auch von Rimski-Korsakows Kollegen und Freund Modest Mussorgski in Russland in jener Zeit entwickelt wird.

Verdi statt Wagner zum Vorbild

Der im Programmheft der Zürcher Inszenierung wieder aufgewärmte Hinweis auf die Musiksprache Richard Wagners trifft ins Leere: Weder die Orchestersprache noch die motivische Durchdringung des Werks lassen diesen Vergleich zu. Viel eher scheint hier Verdi Pate gestanden zu haben: kantable Linien, sparsame Begleitung, bedeutungsschwere, manchmal etwas plakative orchestrale Akzente.

Das bedeutet für einen Dirigenten, dass er relativ wenig Möglichkeiten zu einer eigenständigen Gestaltung hat. Die Partitur ist klar und geradlinig, entfaltet ihre Wirkungen, ohne sich zu sträuben. Vladimir Fedoseyev jedenfalls hielt sich nicht damit auf, eventuelle Schätze zu heben: Seine Marschrichtung war zügig und klar nach vorne gerichtet. Er liess das Stück für sich selber sprechen und tat ihm damit wohl den besten Dienst. Seine Reize hat es zweifellos: Die Exotismen sind nicht so dominant wie in anderen Opern Rimski-Korsakows, aber ein Orchester vom Zürcher Kaliber lässt sich diese Klangfarben natürlich nicht entgehen. Auch den Sängern bietet die «Zarenbraut» eine ganze Reihe dankbarer Partien. Im slawisch geprägten Zürcher Ensemble wusste vor allem eine diese Plattform zu nutzen: Liliana Nikiteanu gab der zerrissenen Figur Ljubascha markante, eindringliche Züge: eine enorm vielschichtige starke Frau, die das ganze Spektrum der Gefühle durchlebt. Und dieses Durchleben machte Nikiteanu auf wahrlich eindrückliche Weise nachvollziehbar.

Durchwachsenes Ensemble

Auch die zweite Täterfigur der Oper, Grjasnoj, ist ein Getriebener, im Strudel von Gefühlen Gefangener, ein starker Charakter, ein Mann der Tat, der vor Mord keinesfalls zurückschreckt. All diese Facetten machte der hinreissend singende bulgarische Bariton Vladimir Stoyanov hinreissend deutlich. Ein sicherer Wert war einmal mehr Alfred Muff als Sobakin. Maya Dashuk in der Titelrolle der Marfa hingegen agierte zwar reizend und spielte das junge Mädchen bezaubernd. Aber sängerisch war sie eine leise Enttäuschung: Ein schnelles, flirrendes Vibrato trübte ihre Linien, im Forte verschwanden die sonst vorhandenen Farben und wichen einem monochromen Einheitsklang. Noch weniger geschmeidig sang der Tenor Alexey Kosarev, der sein Engagement mit seiner Leistung am Premierenabend kaum rechtfertigen konnte.

Galoppierende Pferde aus Licht

Zierde dieser Produktion ist die Bühne, die Erich Wonder konstruierte: Zahlreiche Gaze-Schleier in Kombination mit Gemälden, Projektionen und Lichtkünsten, viele schillernde Bilder mit galoppierenden Pferden aus Licht und Farbe, mit Gefühlslandschaften und Seelenstimmungen ergaben eine surreale, doppeldeutige, vielschichtige Bühnenwelt, deren Symbolik von vielen verschiedenen Seiten her entschlüsselt werden kann, aber längst nicht alle Rätsel preisgab. In der Regie von Johannes Schaaf gab es ansprechende Aktionen, manches blieb aber auch unbestimmt und statisch, und einen kapitalen Fehler inszenierte Schaaf zudem: Am Ende des zweiten Akts, wenn der Bote des Zaren mit der Verkündigung der Brautwerbung eintrifft, dann glaubt das ganze Haus, dass Dunjascha die Auserwählte sein wird. Aber viele Takte bevor der Name Marfa fällt, steht der Vater schon auf und holt Marfa an der Hand vom Sofa: Überraschungseffekt total verschenkt.