Eine bodenständige Eifersuchtstragödie

Michael Eidenbenz, Tages-Anzeiger (31.05.2005)

Zarskaja newesta, 29.05.2005, Zürich

Nikolai Rimski-Korsakows «Die Zarenbraut» ist eine Rarität. Das Zürcher Opernhaus stellt sie zur Diskussion. Das Premierenpublikum reagierte freundlich angetan.

Das Opernhaus spielt Rimski-Korsakows «Die Zarenbraut». Warum? Was motivierte diese Spielplanentscheidung? Ein runder Geburts- oder Todestag steht nicht an, ein Aktualitätsbezug des Stoffs schon gar nicht. Man wird die Wahl des Stücks hauptsächlich im Sinne einer Repertoireerweiterung verstehen dürfen. Tatsächlich tauchen Rimski-Korsakows Opern kaum noch in den europäischen Theatern auf, sein Name fällt allenfalls dann, wenn es wieder mal ein von ihm bearbeitetes Mussorgski-Werk zu kritisieren gilt. Es ist daher gewiss verdienstvoll, den musikhistorisch signifikanten Komponisten einmal abseits seiner beiden Konzertsaalhits, einer länglichen «Scheherazade» und eines albernen «Hummelflugs», zur Diskussion zu stellen.

Wie komponierte nun also dieser Mann selber, der sich erlaubt hatte, am Urgestein der Partituren seines Freundes Mussorgski herumzuschmirgeln? Der erste Eindruck: erstaunlich undramatisch. In einigermassen abgeschlossenen Solonummern, Ensembles und Chören nimmt er sich episch Zeit, um die Gefühlslagen seiner Figuren auszumalen. Der zweite Eindruck: Rimski-Korsakow beherrscht die Techniken der Zeit und wendet sie in einem grosszügigen Stilkonglomerat auch an. Süffige Melodik, die von Verdi stammen könnte, steht neben volksmusikalischen Einflüssen, Klangmalerisches neben deutschem Kontrapunkt, der pflichtschuldig sogar dann bemüht wird, wenn es gilt, der brutalen Zarenleibwache, der Opritschniki, ein Trinklied in die Mäuler zu legen.

Ein Höhepunkt dank Ambivalenz

Ausdruck und Gestus der Musik folgen dicht und ohne Doppelbödigkeiten dem emotionalen Zustand der Figuren - manchmal aber blitzt das Genie kühner Einfälle auf. Gleich im ersten Akt beispielsweise im innig-traurigen, gänzlich unbegleiteten Lied der Ljubascha, mit dem sich diese einst geraubte, missbrauchte und nun im Überdruss verstossene Geliebte des Bojaren Griasnoj in ihrer existenziellen Einsamkeit präsentiert. Später wird die Gedemütigte aus Eifersucht zur Mörderin werden, die Intensität der Rolle hält an - und in Zürich ergreift Liliana Nikiteanu die Chance und läuft zur Hochform auf. Ihre charaktervolle vokale Darstellung dieser als einzige ambivalent gezeichneten Figur ist ein Höhepunkt des Abends.

Ihre Kontrahentin ist die liebliche, unschuldige Marfa, glücklich verliebt, blindwütig umworben von Griasnoj, aus ihrem Umfeld herausgerissen, als sie vom abwesenden Zaren zur Braut gewählt wird, schliesslich wegen einer Zaubertrankgeschichte im Wahnsinn verendend. Auch sie ist mit der körperlich wie stimmlich vogelleichten Maya Dashuk glänzend besetzt. Und auch für sie lässt Rimski-Korsakow als Meister der Instrumentierung Originalität aufscheinen, etwa in den irrlichternden Harfentönen, die ihren Wahnsinn umspielen.

Anderes zeigt die Grenzen des Komponisten: Der Auftritt des Zaren, ein stummes, urplötzliches Auftauchen Iwans des Schrecklichen hoch zu Ross, lässt den Beobachtern das Blut in den Adern gefrieren. Tatsächlich gelingt es Rimski zwar, für Sekunden die Atmosphäre zur erstarrten Atemlosigkeit zu schnüren. Von einer elementaren Evokation totalitärer Macht, wie sie Mussorgski seinen Zeitgenossen vorhielt, ist dies aber weit entfernt. Überhaupt liegt im Beitrag des Zaren ein dramaturgischer Schwachpunkt des Stoffs: Er ist im Grunde nur historische Beigabe und dient höchstens der Überhöhung des Plots von Liebe, Eifersucht, Zaubertrank und Zerstörung, der sich im Übrigen ohne seine Einmischung kaum anders abspielen würde.

Rimski-Korsakow bleibt also weit gehend auf dem Boden der Konvention. Und dass Dirigent Vladimir Fedoseyev sich der Partitur seinerseits mit bodenständigem Musizieren nähert, ist durchaus angemessen. Die Ouvertüre brauchte bei der Premiere am Sonntag zwar etliche Zeit, bis die synkopische Koordination hergestellt war. In der Folge aber erweist sich Fedoseyev als Kenner der Partitur, der ohne Präzisionsfanatismus und bei aller musikalischen Breitleinwandästhetik die dramatische Stringenz aufrechterhält; die Streichung zweier Chorszenen trägt überdies dazu bei.

Luftigeres hatte hingegen Erich Wonder mit seinen Bühnenbildern im Sinn. Schemenhaft gemalte Architektur, transparente Gazevorhänge, raffinierte Lichteffekte (Martin Gebhardt) wollen dem Geschehen etwas Traumartiges verleihen. Die Bildsymbolik spielt mit Kontrasten: Artige Zirkuspferdchen sind zu sehen, wenn Griasnoj von seinen wilden Kriegerzeiten träumt; urbane Steinarchitektur - die zuletzt im Wahnsinn in viele einzelne Quaderchen zerfällt -, wenn Marfa sich an die Gärten ihrer Jugend erinnert; die terroristischen Opritschniki tragen Wolfsköpfe.

Konventionelle Personenführung

Das alles ist apart anzusehen, zeugt aber auch von einer gewissen unverbindlichen Ratlosigkeit. Die luftige Wirkung wird zudem gebremst durch die Üppigkeit der an Rimski-Korsakows Zeit orientierten Kostüme (Andrea Schmidt-Futterer), mit deren Anfertigung in Höchstqualität und luxuriöser Menge das Opernhaus wieder einmal seine Betriebskosten rechtfertigen kann. Ihr Einsatz macht die Atmosphäre stickig, ein Effekt, der sich in der durchweg sorgfältigen, aber gänzlich konventionellen Personenführung durch Regisseur Johannes Schaaf fortsetzt.

Mit vokalen Mitteln hat das vorzügliche Ensemble daher vor allem charakterliche Individualität zu erzielen: Mit fanatischem Temperament der beeindruckende Vladimir Stoyanov als rasend verliebter Griasnoj, mit souveräner Attitüde Pavel Daniluk als sein Bojaren-Freund Maljuta. Alfred Muff ist ein grossherziger Brautvater, Katharina Peetz eine charmante Brautfreundin, Margaret Chalker deren innig bekümmerte Mutter, Alexey Kosarev ein Inbegriff eines Liebhabertenors und Matin Zysset ein gemässigt karikierender Zaubertränkearzt. Warum nun soll man also Rimski-Korsakow spielen? Die Antwort des Zürcher Opernhauses lautet im Wesentlichen: Warum nicht? So interessant wie ein weiterer Donizetti, ein weiterer Puccini ist er allemal. Das muss genügen.