Die Wölfe des Despoten

Hans-Klaus Jungheinrich, Frankfurter Rundschau (31.05.2005)

Zarskaja newesta, 29.05.2005, Zürich

Bildstark und musikalisch ergiebig: Rimskij-Korssakows "Zarenbraut", inszeniert von Johannes Schaaf und dirigiert von Vladimir Fedoseyev an der Oper Zürich

Die russische Oper ist ein eigener Kontinent, dessen Unbekanntheit im Westen durch die aktuelle Praxis originalsprachlicher Aufführung (kombiniert mit landessprachlicher Übertitelung) nicht eben gewendet werden kann; der vermehrte Arbeitsaufwand macht die Einstudierung eines slawischen Werkes zu einer Betriebsstörung, die nur selten und gleichsam als Ausnahme möglich ist. In der reichen Schweiz und im internationalen Zürich scheint das alles halb so schlimm. Aber Opernintendant Alexander Pereira weist doch mit besonderem Stolz auf die phantastische Sängerbesetzung hin, die ihm für Nikolai Rimskij-Korssakows Zarenbraut zur Verfügung steht und die Einstudierung nicht nur rechtfertigte, sondern - ja, man muss es so sagen - danach schrie. Dadurch wurde es eine triumphale Stück-Entdeckung. Zumal mit Johannes Schaaf und Erich Wonder eine eindrückliche, raffinierte, durchdachte Bühnen-Optik anstand.

Unbehagen an der Despotie

In Russland gehört Die Zarenbraut zum Kernrepertoire wie die meisten anderen Rimskij-Opern, von der verführerischen Mainacht bis zur politischen Parabel des späten Goldenen Hähnchens, mit dem der Künstler, 1905 eine Symbolfigur des antizaristischen Widerstands der Arbeiter und des liberalen Bürgertums, die Summe seiner Weltsicht zog. In der 1899 uraufgeführten Zarenbraut werden die kritischen Töne noch vorsichtiger, wenn auch unüberhörbar angeschlagen. Das Unbehagen an der Despotie wird im Libretto (an dem der Komponist mitarbeitete) pfiffigerweise "den Deutschen" in den Mund gelegt, die hier weniger als Feindbild fungieren denn als Stimme der Zivilisation und Gesittung (ausbalanciert freilich von einem als deutsch identifizierten dämonischen Magier). Zwar wird im ersten Akt auch gemeinsam die (bereits aus Boris Godunow bekannte) Zarenhymne geschmettert, aber das gerät im Kontext zu einer eher karikatuiristischen, höhnischen Übung.

Vor allem führt die Handlung (angeschärft von Schaafs erzählerischem Konzept) den barbarischen Brauch der zaristischen Brautschau unter den Töchtern des Landes als gebührende Unziemlichkeit vor. Opfer der höchstherrscherlichen Gier wird die mädchenhafte Schönheit Marfa, deren tragisches Geschick sich schon diesseits des Thrones entscheidet. In einer wüsten Intrige wird sie ihrem geliebten Bräutigam Wanja entzogen von dem abgewiesenen Anbeter Grjasnoj und dessen enttäuschter Geliebter Ljubascha. Diese vertauscht rachsüchtig einen von Grjasnoj besorgten Liebes- mit einem Krankheits- und Todestrank, an dem die Rivalin dahinsiecht. Eine hintertreppenhafte Leidenschafts-Ballade mündet in rabenschwarze Verzweiflung der Schuldigen und Unschuldigen. Kaum ein Trost, dass auch der um sein Liebchen gebrachte schnöde Zar am Ende leer ausgeht.

Die Oper beginnt mit einer elektrisierend schwungvollen, auch mit allen kontrapunktischen und modulatorischen Meisterschafts-Wassern gewaschenen Ouvertüre, an deren Schluss kurz die Melodie der Marfa'schen Wahnsinnsarie anklingt, die das Ende des vierten Aktes mit ihrer irisierenden, somnambulen Insistenz beherrscht. Rimskij transponierte dabei italienische und französische Vorbilder (aber auch die chromatisierende Tristan-Entrücktheit) in seine psychologisch gereifte klangsensualistische Tonsprache. Das souveräne Umschmelzen von Einflüssen ist in der ganzen Partitur merklich, wenngleich es in rezitativischen Strecken auch etliche Trockenheit gibt. Die Volksliednähe fördert neben zünftigen Chortableaus auch die Aufwölbung zu formklaren Ensembles bis hin zu virtuosen Simultanszenen, die der musikalischen Dramaturgie einen geradezu modernen Anstrich geben.

Akademiedirektor-Musik

In Zürich vertraute man auf die zuverlässige Kompetenz des Dirigenten Vladimir Fedoseyev, der wohl nicht der Mann war, überraschende Funken aus diesem Notentext zu schlagen. Ein wenig behäbig ging er die Sache an, auch bei der mehr dem Trab als dem Galopp verpflichteten Energetik der Orchestereinleitung. Klarheit und Transparenz waren realisiert, wenn auch weniger der dramatische Furor, die eloquente Beweglichkeit, das überrennende rhetorische Pathos. In Sturmhöhen exzentrischer Passioniertheit wurden weder das sorgfältig agierende Orchester noch der solid substanzreiche Chor (Einstudierung: Jürg Hämmerli) geführt. Zum Klingen gebracht wurde mehr der kultivierte Akademiedirektor als der ingeniös hundertfarbige Klangzauberer.

Freilich hatten die Stimmen durchweg überragendes, oft substantiell geradezu stentorhaft monumentales Format. Allen männlichen Kollegen voran der zur Raskolnikow-Figur verdichtete Bariton Vladimir Stoyanov als Grjasnoj. Tenoral charaktervoll auch der Wanja von Alexey Kosarev. Apart das Rollenprofil der beiden weiblichen Hauptpartien. Zunächst dominiert Ljubascha, die mit einem ausgedehnten, äußerst heiklen a-cappella-Lied schwermütigen Charakters auftritt, das von der Altistin Liliana Nikiteanu mit märchenhafter Konzentration wiedergegeben wurde. Im weiteren Verlauf tritt die zunächst eher oberflächlich-soubrettenhaft anmutende Marfa in den Vordergrund, deren lyrisch durchdrungene, unberührbare Zartheit im Schlussakt kulminiert - eine Aufgabe, der Maya Dashuk mit selbstvergessener Serenität gewachsen war.

Johannes Schaaf gelang es, im Gesamtaufriss und vielen Einzelzügen die dramatische Wucht der Handlung spannungsvoll nachzuzeichnen. Beklemmend die Allgegenwart zaristischer Schergen in Wolfsmasken - Chiffren der Gewalt in einer bedrohten Sphäre. Umweglos und zugespitzt die Personenführung. Erich Wonders imaginäre Bühnenräume brillierten mit vielen Zwischenvorhängen und subtilen Projektionen und gaben den Schauplätzen ein zwischen Expressionismus und surrealer Magie changierendes Kolorit (beherzt konterkariert von Andrea Schmitt-Futterers strengen, bildstarken Kostümen). Dabei waren aufwändige, nicht immer mühelose Umbauten (besonders vor dem Schlussakt, der dann aber nochmals mit einem optischen Knalleffekt versöhnte) hinzunehmen. Eine insgesamt fabelhafte Aufführung, ein starkes Plädoyer für die immense Opernkunst Rimskijs.