Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (03.04.2005)
Mit gemischten Gefühlen ging’s gestern in die Oper. Schon wieder Barock, vier Stunden, praktisch keine Striche, 6 hohe Stimmen (davon 3 Countertenöre): Etwas gar viel für mich, die mit Barock wenig anfangen kann und vor allem die tiefen Stimmlagen mag! Und das alles bei schönstem Frühlingswetter! Der Grund, weshalb ich trotz dieser Vorbehalte in die Oper pilgerte, lag beim Dirigenten. Er hatte mir bisher stets Sternstunden vermittelt – vielleicht würde es auch heute so sein?
Um es vorweg zu nehmen: Musikalisch war der Abend ein Leckerbissen sondergleichen. Von der ersten Sekunde packte mich das Werk, die Spannung verliess mich während der ganzen Aufführungsdauer nie, und es wurde ein unvergesslicher Opernabend. Sicherlich kann man Barock nicht mit Barock vergleichen, Monteverdi ist nicht Händel, Harnoncourt nicht Christie und Christie nicht Minkowski. Trotzdem – was mir bei Harnoncourt (oftmals) und Christie fehlt, ist bei Minkowski jeweils da: sprühende Leichtigkeit, sinnnliche Töne, Dynamik, Spannung, betörende Momente. Minkowski stand ein bestens disponiertes Orchester "La Scintilla" zur Verfügung sowie ein Sängerensemble, das keine Wünsche offen liess. Minkowski konnte von diesen Sängern alles fordern, selbst zartestes, fast schon nicht mehr hörbares Piano – und dies auch noch mit Orchesterbegleitung. Diese zarten Töne ergriffen mich mehr als nur einmal, und ich konnte meine Rührung schwer beherrschen.
Franco Fagioli als Cesare war eine wirkliche Überraschung. In der "Poppea" gefiel mir zwar seine Stimme, er wirkte aber larmoyant und blass. Schon damals fragte ich mich, ob das an ihm oder an der Inszenierung lag. Seine Stimme ist für einen Countertenor erstaunlich weich, sinnlich und besitzt "Körper" – einer Altstimme sehr ähnlich. Auch wenn seine Stimme vielleicht noch etwas an Durchschlagskraft vermissen lässt und eher klein ist (er ist noch sehr jung), meisterte er sowohl die Koloraturen wie auch die lyrischen Teile mit Bravour. Charlotte Hellekant als Cornelia verkörperte die Rolle der unglücklichen Frau des ermordeten Pompeo eindrücklich; eine schöne Erscheinung mit einer wunderbar warmen Altstimme. Im Zusammenspiel mit ihrem Sohn Sesto, welcher von der Mezzosopranistin Anna Bonitatibus gesungen wurde, ergaben sich die schönsten Momente. "Giulio Cesare" ist eine typische Barockoper, in der praktisch nur Einzelarien gesungen werden. Man tritt auf, singt – und tritt wieder ab. Eines der wenigen Duette findet am Ende des 1. Aktes zwischen Cornelia und Sesto statt: Für "Son nato/a a lagrimar/sospirar" alleine würde sich der Opernbesuch schon lohnen. Die beiden Frauenstimmen ergänzen sich optimal und bringen die ganze Verzweiflung in einer Art und Weise zum Ausdruck, dass dieser Moment eindrücklich haften bleibt.
Cecilia Bartoli als Cleopatra gefiel mir stimmlich so gut wie schon lange nicht mehr. Sie liess die Stimme – auch in den virtuosen Passagen – strömen, übte keinen unnötigen Druck aus, so dass das Vibrato im Rahmen blieb. Man mag vielleicht bemängeln, dass Bartoli auf der Bühne immer die Bartoli bleibt (sei es nun als Cenerentola, Rosina oder eben Cleopatra), aber Cleopatra war – obwohl sie Königin war – noch ein sehr junges Mädchen, und daher störte mich die Naivität in der Darstellung nicht. Die Counterstimmen von Martin Oro als Tolomeo (Ptolomäus; Gegenspieler Caesars und Cleopatras) und von José Lemos als Nireno (Vertrauter Cleopatras) sind sicherlich Geschmackssache – für einige Opernbesucher immer noch etwas gewöhnungsbedürftig –, aber beide bekundeten keine Mühe in ihren schwierigen Partien. Ihre Stimmen entsprachen eher dem Bild, das viele von einem Countertenor haben: viriler als jene von Fagioli, aber mit weniger Schmelz.
Auch die beiden tiefen Partien, Gabriel Bermúdez als Curio und Alan Ewing als Achilla, der in Cornelia verliebte Mörder von Pompeo, standen den übrigen Protagonisten in nichts nach. Eine exquisite Sängerleistung von A bis Z!
Und was soll man von der Inszenierung sagen? Sie bekam einige heftige Buhs, die ich persönlich nicht nachvollziehen kann. Von Lievi ist man Schlechteres gewohnt! Lievi interpretiert zwar nichts, lässt das Ganze in Las Vegas spielen, einer Kulisse, wo man heute den ganzen Zauber des Orients antreffen kann, ohne sich von heimischen Gepflogenheiten zu weit entfernen zu müssen. Er lässt m.E. die Oper als "Theater im Theater" abrollen. Wie bereits angedeutet, treten die Protagonisten auf, singen und treten wieder ab. Ihre ganzen da–capo–Arien werden jeweils auf zwei Podesten links und rechts gesungen. Personenführung ist nicht wirklich da; aber es stört (mich) nicht. Bei der musikalischen Leistung war ich froh, dass nicht billiger Aktionismus den Eindruck trübte; man konnte sich voll auf die Sänger und das Orchester konzentrieren.
Schöne Einfälle und Ironie konnte man Lievi nicht absprechen. Wunderschön die Szene, in der Cleopatra die Götter der Liebe anfleht und in der sie – umringt von einem Teil des Orchesters – in einer Kugel wie eine überirdische Gestalt erscheint.
Ob dieses (ästhetische, jedoch nicht deutende) Konzept aufgegangen wäre, wenn das Musikalische nicht in einem so hohen Masse gestimmt hätte, das wage ich zu bezweifeln. Trotzdem: Für mich war der Abend ein absolut unerwartetes Highlight, das mich darin bestärkt, jeweils auch bei anfänglichen Vorbehalten den Weg ins Opernhaus zu wagen.