Groteskes Spektakel mit Sprengstoffgürtel

Michael Kunkel, Tages-Anzeiger (29.11.2006)

Don Carlos / Don Carlo, 26.11.2006, Basel

Fast ein Skandal: Calixto Bieitos surreal-brutale Annäherung an Verdis «Don Carlos» in Basel.

Opern sind grausam. Kaum eine Kunstgattung hat so viel Erfahrung mit der effektvollen Darstellung menschlicher Abgründe, und Giuseppe Verdis Opern gehören zur Grundausstattung dieses Luxussegments der Abendunterhaltung. Sie sind selbstverständlich nicht nur Gewaltorgien, sondern auch differenzierte Sittenbilder, vielschichtige Klangkunstwerke und manches mehr.

Im Fünfakter «Don Carlos» etwa geht es um die Liebe zur Zeit der Inquisition. Ehe er sich versieht, wird der Titelheld zum Stiefsohn seiner geliebten Elisabeth, weil diese aus politischen Gründen seinen Vater, Philippe II., ehelichen muss. Gleichzeitig möchte Don Carlos dem Wüten der spanischen Inquisition in Flandern gerne ein Ende machen. Grob gesagt ergibt sich das multiperspektivistische Opern-Ganze aus der raffinierten Verquickung dieser beiden Aspekte.

Nun sind Verrat, Hass, Erpressung, Vergewaltigung, Blutvergiessen, Folter und Massenmord Opernvergnügen, auf die der katalanische Regisseur Calixto Bieito in seiner Inszenierung am Theater Basel ungern als solche verzichten möchte. Dass es ein besonderer Opernabend zu werden verspricht, kann man schon ahnen, wenn die Hauptfigur gleich zu Anfang erschlagen wird und eine lange, peinsame Stille entsteht. Wenig später spritzt Elisabeths Brust den wieder lebendigen Don Carlos nass, quasi als Liebeserklärung. Dies ist nur der harmlose Auftakt zur ausgiebigen Darstellung offensiver sexueller Praktiken und gewaltsamer Handlungen, die in dieser Dichte und Drastik selten auf einer Opernbühne zu erleben sind.

Keine Gnade für Cüpli-Fetischisten

Bieitos brutalistisches Regiekonzept ist ein spätes Bekenntnis zu surrealen Vorbildern à la Buñuel und Artaud, was uns davon entlastet, im Einzelnen nach Sinn fragen zu müssen. Im Ganzen geht es ums Opferwerden und Opfern vor dem Hintergrund eines historischen religiösen Fundamentalismus nach spanischer Art. Das ist - siehe Papst, siehe «Idomeneo» - ein Spektakel auf der Höhe der Zeit, mit Sprengstoffgürtel, explodierenden Autos und allem, was so dazugehört. Bieito möchte wohl mit äusserst drastischen Mitteln auf die Aktualität der langen katholischen Tradition von Sadomasochismus und Nekrophilie hinweisen - erstaunlich ist, wie sehr und geradezu alternativlos er diese Tradition in seiner Ästhetik verinnerlicht hat.

Das Basler Publikum ist eigentlich daran gewöhnt, Opernexperimente zu ertragen und rastete an der Premiere interessanterweise erst aus, als gegen das ungeschriebene Operngebot «Du sollst deinem Publikum an einem langen Abend irgendwann ein Cüpli gönnen» verstossen wird: Die dafür notwendige Pause stellt sich nach dem dritten Akt nämlich einfach nicht ein, weil der kettenrauchende Todesengel (Karl-Heinz Brandt) inmitten nackt schlotternder Hinrichtungskandidaten nicht aufhören will, ein Lorca-Gedicht zu rezitieren. Jetzt verlagert sich der Tumult in Richtung Publikumsraum, es gibt hysterische Ablehnungs- und Sympathiebekundungen. Ein bisschen war der Skandal wohl mitinszeniert und man muss sagen: Alle Achtung, dass eine sonst so eklatant unwirkungsmächtige Kunstform wie moderne Lyrik dazu gebraucht werden kann.

Ein richtiger Skandal ists dann aber doch nicht. Die meisten bleiben bis zum Schluss und sorgen dann für überwiegend zustimmenden Applaus, sogar beim Auftritt des umstrittenen Regisseurs. Musik gibt es übrigens auch: Aus einem insgesamt zuverlässigen Ensemble sind vor allem Mardi Byers (Elisabeth), Keith Ikaia-Purdy (Don Carlos), Marian Pop (Rodrigue) und Stefan Kocán (Philipp II.) zu loben. Erstaunliches vollbringen Chor und Extrachor des Theaters Basel, deren Sängerinnen und Sänger in Aktionen verwickelt sind, um die man sie nicht in jedem Moment beneidet.

Waches Orchester, toller Dirigent

Einen sensiblen Kontrapunkt zum Bühnengeschehen webt Kapellmeister Balázs Kocsár zusammen mit dem oft ungemein wachen, klanglich fein modulierenden Sinfonieorchester Basel. Kocsár liefert eine spannende, differenzierte Lektüre der «Don Carlos»-Partitur in der Urfassung (seinen Namen könnte man sich auf der anstehenden Suche nach einem neuen Chefdirigenten ruhig vormerken). Für wie fragwürdig man diese Produktion auch halten mag - positiv ist gewiss zu vermerken, dass das Theater Basel sich in dieser ersten Spielzeit mit dem neuen Theaterdirektor Georges Delnon und dem neuen Operndirektor Dietmar Schwarz nicht in vermeintlich sichere, seichte Gewässer begibt, sondern ganz gezielt die Provokation sucht und Fragwürdiges wagt in einer vor sicheren Werten übervollen Kulturlandschaft.