Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (17.01.2005)
Ein eigenartiges Werk gelangte da gestern zum ersten Mal in Zürich zur Aufführung. Der Meister der Symbolik, Maurice Maeterlinck – dessen "Pelléas und Mélisande" vor knapp zwei Monaten am selben Ort Premiere hatte –, verknüpft hier zwei Figuren: die antike Ariadne, welche Theseus mittels Faden aus dem Labyrinth des Minotaurus heraushilft, und König Blaubart - eine Märchenfigur, die der französische Autor Charles Perrault (1628-1703) ins Leben rief, welcher auch "Cendrillon" (Aschenputtel) verfasste.
Die mythologische Ariadne besitzt allerdings andere Wesenszüge als diejenige in Maeterlincks Werk: Sie ist Theseus treu und als dieser sie – auf Geheiss von Dionysos (Bacchus) – verlässt, ist sie zu Tode betrübt. Ihr Wehklagen wurde vielfach vertont. In "Ariane et Barbe-Bleue" ist sie jedoch diejenige, die Barbe-Bleue verlässt. Eigenartig mutet es auch an, dass eine Titelfigur(Barbe-Bleue) in einer Oper ca. 3 Minuten zu singen hat...
Maeterlinck hatte im Gegensatz zu "Pelléas" von Anfang an eine Vertonung seines Stoffes im Sinne. Deshalb mag das Werk kompakter erscheinen. Interessant ist, dass er die so genannte "Diamanten-Arie" der Ariane in Prosa schrieb, während der Rest in Versform verfasst ist. Dies erzeugt eine zusätzliche Dramatik.
Paul Dukas’ Musik ist sehr symphonisch angelegt, sehr gewissenhaft komponiert (Dukas brauchte dazu 7 Jahre), erinnert mich häufig an Filmmusik (und an Korngold), ist in meinen Augen jedoch konventioneller als Debussys "Pelléas". Verschiedentlich habe ich gelesen, dass Dukas weniger von Wagner inspiriert gewesen sei als viele seiner Zeitgenossen; das kann ich nun überhaupt nicht nachvollziehen; für mich scheint der Bayreuther Meister bei vielem ganz offensichtlich durch. Auch wenn ich die Musik nicht als meisterlich einstufen möchte, so hinterlässt sie doch sehr viele tiefe Eindrücke. Manchmal wäre vielleicht weniger mehr gewesen, aber musikalisch ist das Werk doch ein Leckerbissen, vor allem, wenn die Partitur so gespielt wird, wie es das Orchester der Zürcher Oper unter der Leitung von John Eliot Gardiner tut. Kammermusikalische Passagen wechseln mit dramatischen Stellen in voller Lautstärke ab, berückende Piani werden ebenso gemeistert wie die explodierenden Tutti. Ein Wechselbad der Gefühle.
Hervorragende musikalische Umsetzung
Eine grandiose Leistung wird von Yvonne Naef als Ariane geboten. Sie steht praktisch konstant auf der Bühne, und die Partie ist enorm anspruchsvoll. Ihr voller, runder, sinnlicher Mezzo entfaltet sich in der Mittellage am eindrücklichsten, die (vielen) Pianostellen vermag sie berührend zu gestalten, die Stimme strömt völlig natürlich und problemlos. Jedoch bewältigt sie auch die Spitzentöne und die dramatischen Passagen ohne sicht- oder hörbare Probleme. Etwas Bedenken habe ich nur angesichts der Tatsache, dass sie diese mörderische Partie innert etwas mehr als 3 Wochen neunmal singen soll...
Cheyne Davidson als Barbe-Bleue meisterte seine kurze Partie souverän, verbreitete als Bösewicht trotz allem Sympathie und verkörperte einen Unhold, der sich oft hinter "Otto Normalverbraucher"-Gehabe verschanzt. Wie eingangs erwähnt, ist die Rolle des Barbe-Bleue eigenartig gestaltet: Im 1. Akt tritt er sehr kurz auf, im 2. ist er nur als undefinierbare Gewalt erahnbar und im 3. Akt kommt er gefesselt auf die Bühne und bleibt stumm.
Die "cinq filles d’Orlamonde" (alle mit Namen von Maeterlinck-Heldinnen aus anderen Werken versehen) wurden sehr homogen gestaltet; herausragend war darunter Stefania Kaluza als Sélysette. Eine weitere Eigenheit dieses Werkes besteht darin, dass eine der Frauen von Barbe-Bleue eine stumme Rolle (Anikó Dónath) ist. Ygraine wurde von Eva Liebau, Mélisande von Martina Jankova, Bellangère von Liuba Chuchrova gesungen.
Eine etwas grössere Rolle ist diejenige der Amme, welche in Liliana Nikiteanu eine etwas junge Verkörperung erfährt. Da hätte die ursprünglich vorgesehene Marjana Lipovsek wohl eher ins Bild gepasst. Nikiteanu gefiel mir in dieser Rolle ungleich besser als bei ihren letzten Auftritten, wobei es schade ist, dass sie manchmal zu sehr chargiert.
Zwiespältige Inszenierung
Und was ist von der Inszenierung zu halten? Vorerst eine persönliche Bemerkung: Es war m.E. etwas unglücklich, dieses Werk kurz nach der genialen Umsetzung des "Pelléas" auf den Spielplan zu setzen, da nur schon die (zeitliche) Nähe der beiden Werke unwillkürlich zu Vergleichen führen muss. Diese fielen in meinen Augen doch eher gegen Claus Guth aus. Die Inszenierung war mir zuweilen zu wenig homogen, in (zu) vielen Passagen widersprachen sich Wort und Bild (warum z.B. singt Ariane vom Frühling, wenn die Inszenierung im Winter stattfindet?), die Realität vermischte sich mit Fiktion, mit den Seelenräumen. Es wurde für mich nicht ersichtlich, was Illusion/Traum ist und was Realität. Auch fiel die Personenführung gegenüber "Pelléas" ab.
Eindrücklich hingegen das Anfangsbild: anstelle eines verwunschenen Schlosses ein Einfamilienhäuschen, in dem ein Fenster nach dem anderen beleuchtet wird, im Schlafzimmer werden Vorhänge zugezogen, ein idyllisches Bild einer normalen Welt. Ist vielleicht gar mein Nachbar ein Barbe-Bleue?
Der Übergang in das Gemach mit den 7 Türen (Ariane erhält für alle 7 Türen einen passenden Schlüssel, mit dem Verbot allerdings, die 7. zu öffnen) wurde auch sehr gut gelöst. Diese Türe, die Ariane von Anfang an im Auge hatte – alle anderen interessieren sie nur bedingt bis gar nicht, denn ihr Credo ist: "d’abord, il faut désobéir" und "tout ce qui est permis, ne nous apprendra rien" –, ist im Boden eingelassen und führt in ein Untergeschoss. Dort sind Kellerabteile. Ein sehr bedrückender Einfall, lässt er einen doch sofort an die Dutroux-Affäre denken, zumal Barbe-Bleue im Obergeschoss sein Unwesen mit der Amme fortsetzt. Die nicht getöteten, aber eingesperrten Frauen von Barbe-Bleue sind alle traumatisierte Wesen, die sich nur ungern auf Arianes Befreiungsversuche einlassen. Für mich persönlich nicht nachvollziehbar, aber von der Realität bestätigt - ziehen es doch geschundene Frauen manchmal vor, beim Peiniger zu bleiben; wohl aus Angst, sich einem neuen Leben, neuen Herausforderungen stellen zu müssen, nach dem Motto "Was ich habe, das weiss ich, damit kann ich mich abfinden. Was mich erwartet, ist unbekannt und macht mir Angst, aus diesem Grunde bleibe ich lieber beim Bestehenden". Somit scheitert auch eindrücklich Arianes Versuch, die Frauen zu befreien, da diese es selbst nicht wollen.
Unklar blieb mir hingegen u.a. der tiefere Sinn der Szene, in der sich die Frauen eigentlich für die Freiheit schmücken sollen, bei Guth aber genau das Gegenteil tun, sowie das Rudern auf dem Militärbett Richtung Freiheit.
Somit liess mich das Gesamtkonzept etwas ratlos zurück. Sehr gute Einfälle (auch z.B. die eindrückliche Kapitulation Barbe-Bleues vor Arianes unbeugsamem Willen), Ideen, welche unter die Haut gingen, wechselten mit eher belanglosen ab. Es war für mich nicht homogen, stringent genug, um mich wirklich zu berühren oder so durchzuschütteln, wie es Sven-Eric Bechtolfs "Pelléas" schaffte.
"Ariane et Barbe-Bleue" wird sicherlich (wieder) kein Publikumsrenner werden, die Reaktionen waren demzufolge auch eher gemässigt; verhaltene Bravo-Rufe für die Inszenierung (kein Buh!), viel Zuspruch für Yvonne Naef sowie John Eliot Gardiner und das Orchester. Aber trotzdem: Ein Werk, das sich zu hören lohnt! Schön, dass das Opernhaus es auf den Spielplan gebracht hat.