Blaubarts tönendes Schweigen

Herbert Büttiker, Der Landbote (18.01.2005)

Ariane et Barbe-Bleue, 16.01.2005, Zürich

Sein «Zauberlehrling» ist wahrhaftig nicht unbekannt. Aber im Opernhaus ist jetzt der grosse Komponist Paul Dukas zu entdecken. Für einen grossen Abend stehen auch die Namen Yvonne Naef und John Eliot Gardiner.
Auf eine falsche Fährte führt das geniale Orchesterscherzo «L'apprenti sorcier» (1897) nicht. Auch «Ariane et Barbe-Bleue» (1907), Paul Dukas' einzige Oper, ist ein orchestrales Meisterwerk, ein sinfonisch gross angelegtes, wenn auch mit knapp zwei Stunden Musik nirgends ausuferndes Werk. Differenziert und anspruchsvoll in der motivischen Arbeit und stark in der Klangsymbolik, ist «Ariane et Barbe-Bleue» vielleicht zuallererst ein Orchesterereignis, in das sich das vokale Geschehen einfügt.

Dukas' (1865–1935) freundschaftliche Nähe zu Debussy (1862–1918) und der auch durch die Textvoralge von Maurice Maeterlinck gegebene Bezug zu «Pelléas et Mélisande» lassen «Ariane et Barbe-Bleue» nur umso deutlicher als eigenständiges Werk erscheinen. Impressionismus? Eher wäre im Hinzielen auf eine alles verwandelnde Kraft der Lichtmusik, die auf Skrjabins esoterische Absichten hin- und auf Oliver Messiaens Ekstatik vorausweist, von Expressionismus zu sprechen. Dunkel und Licht, toter Raum und lebendige Atmosphäre bestimmen als grosse Kontraste die musikalische Dramaturgie. John Eliot Gardiner und das Orchester arbeiten sie unglaublich suggestiv, mit viel Verve und Differenziertheit heraus. Die grosse Geste und die blitzenden Akzente, alles fügt sich zur Hörbühne, die intensiver noch als die Inszenierung, vielleicht jede Inszenierung, dieses elementare Geschehen nachvollziehen lässt.

Yvonne Naefs Glanzleistung

Zur Eigenwilligkeit der Oper «Ariane et Barbe-Bleue» gehört, dass sie eine der grössten und die wohl kürzeste Titelfigur der gesamten Opernliteratur besitzt. Nicht die Hauptfigur des Märchens, Blaubart, beherrscht die Szene, sondern die letzte der Frauen, die er in sein Schloss führt. Blaubart hat 21 Takte zu singen, wenn er im ersten Akt Ariane dabei ertappt, dass sie das verbotene Zimmer betritt. Das ist alles. Im letzten Akt liegt er von den aufrührerischen Bauern erbärmlich zugerichtet und stumm auf der Bühne. Seine früheren Opfer beginnen ihn zu umsorgen, und Ariane, die ihre Schicksalsgenossinnen befreien wollte, löst ihm die Fesseln und geht dann ihren Weg allein.

Im Leisen und Offenen klingt die Partie der Ariadne aus, die mit ihrer Dauerpräsenz und ihren Steigerungsmomenten die Oper prägt. Dem Bariton Cheyne Davidson bleibt nicht viel mehr, als mit griffig deklamierendem Bariton und einigen Phrasen den männlichen Anspruch des Blaubart kurz zu markieren, dann ist es die Sache des Orchesters und der Inszenierung, ihn im Schweigen präsent zu halten. Dagegen ist es die ganze lyrisch-dramatische Palette einer grossen Heroine, mit der Ariane ins Zentrum rückt, und Yvonne Naef bleibt ihr nichts schuldig. Ihr Mezzosopran entfaltet alle Facetten der kraftvollen Selbstbehauptung gegenüber dem Haustyrannen, des exaltierten Licht- und Freiheitspathos, der Sanftheit im Umgang mit den Frauen und der resignativen Versunkenheit – das alles mit unverbrüchlichem Glanz, mit Wärme und Fülle in der grossen Spannweite von Dynamik und Tonumfang und ohne Ermüdungsmomente in der anstrengenden Weite der Partie: eine ereignishafte Parforceleistung.

Die Frauenstimmen prägen überhaupt das Klangbild der Oper. Ein Gegenpol ist allerdings mit der brodelnden Volksmenge gegeben, deren dumpfes Grollen der Chor hinter der Bühne im An- und Abschwellern eindrücklich gestaltet. Die Frauen: Ein stimmlich starkes und einfühlsames Profil bekommt die Amme, Arianes geschäftige und ängstliche Freundin, durch Liliane Nikiteanu, die hier ebenfalls eine anforderungsreiche Einzelpartie meistert. Die fünf eingesperrten Frauen bilden hingegen ein musikalisches Kollektiv, wenn auch ein differenziertes. Dass sie mit Stefania Kaluza, Eva Liebau, Martina Jankova, Liuba Chuchrova und Aniko Donath hervorragend besetzt sind, zeigt sich in vielen Passagen. Drei Bauern (Ruben Drole, Jeffry Krueger, Morgan Moody), die den gefesselten Blaubart auf die Bühne bringen, rücken die raue Männerwelt ins Bild, musikalisch haben sich aber kaum Gewicht.

Frauenpower – übernatürlich gut

Eine Frauenoper also. Maeterlincks nicht für die Sprechbühne, sondern für das Musiktheater bestimmte Stück wurde sogleich explizit so gedeutet: als Darstellung der «Mission der neuen Frau» (Helene Stöcker, 1907). Das poetische Verfahren war dabei bewundernswert kühn. In den Namen der eingesperrten Frauen zitiert Maeterlinck die Figuren seiner früheren Werke (inklusive Mélisande), in Ariane – im griechischen Mythos die Frau, die den Weg aus dem Labyrinth des Minotauros wies – gibt er ihnen die Frau an die Seite, die Blaubart die Stirn bietet. «Sie handelt nicht auf Grund einer feministischen Überzeugung, sondern aus der Fülle einer überlegenen, übernatürlich guten und aktiven Natur», interpretierte der Komponist später freilich die Figur. So oder so liegt es für eine Inszenierung auf der Hand, Blaubart nicht als Märchenfigur zu verstehen, sondern als Mann in «normalen» bürgerlichen Verhältnissen zu zeigen.

Claus Guth und sein Ausstatter Christian Schmidt haben die Zuspitzung der gesellschaftlichen Sicht gesucht und jene Epoche ausgewählt, deren Normalität uns die satirische Verzeichnung wie von selbst zu liefern scheint: die fünfziger und sechziger Jahre mit dem trauten Eigenheim, mit der puppenhaften Frau unter der Turmfrisur, mit dem Mann, der die Frau über die Schwelle trägt und die Türe hinter ihr schliesst.

Doppelbödigkeit

All das deutet die Inszenierung locker an. Milieuschilderung ist nicht das Ziel, und das ist gut so. Denn allein schon die sechs Türen, die eine nach der anderen geöffnet werden, rufen nach einer abstrahierenden Raumkonzeption, und mit dem Gang durch die verschlossene Türe und Ausbruch aus dem dunklen Gewölbe stellt das Werk der Inszenierung dann ohnehin herausfordernde Aufgaben. Gelöst werden sie mittels Projektion und mit dem ingeniösen Einsatz der Bühnenmaschinerie – nicht zu purem Effekt, sondern im Sinn einer Metaphorik, die die Doppelbödigkeit von Blaubarts Haushalt eindrückliche vor Augen führt: Da bricht der Boden durch, da gehen wir gleichsam mit hinunter in den labyrinthischen Keller, und mit den befreiten Frauen geht es am Ende des 2. Aktes wieder hinauf. Dass im dritten Akt die Utensilien der Barbie-Existenz ins offene Loch geworfen werden, dass von dort herauf der ans Bett gefesselte Balubart auftaucht, all das Weggeworfene im Fetischbündel mit dabei: in dem allem zeigt sich Regiearbeit, die genau verstehen will.

Wenn sich am Ende der Boden wieder geschlossen hat, die fünf Frauen sich Blaubart zuwenden und Ariane mit ihrer Amme geht, bleiben dennoch irritierende Fragen. Da ist, nicht ohne Komik, die Situation der fünf Frauen an Blaubarts Bett, und da ist das Mysterium einer Gestalt, die sich entzieht, die fremd bleibt, bei aller Empathie, die ihr Yvonne Naef verschafft, und da ist ein Werk, das wohl sein Geheimnis bewahrt.

«Die Flasche, die ich ins Meer warf? Ich mache mir keine Illusionen über die Anzahl jener, die die in ihr enthaltene Botschaft entziffert haben werden.» Paul Dukas (Olivier Messiaen zitiert ihn mit diesem, wie er sagt, traurigen Wort) hat nur ein schmales Œuvre hinterlassen, wenig geschrieben und vieles vernichtet. Er war ein Mann des (tönenden) Schweigens – wie Blaubart, dessen Gefangennahme als kolossales Furioso, wie eine aller Kontrolle entgleitende Zwangshandlung, komponiert ist? Nein, dass die Flaschenpost «Ariane et Barbe-Bleue» schon ausgelesen wäre, sei hier wirklich nicht behauptet.