Christian Fluri, Aargauer Zeitung (28.11.2006)
Calixto Bieito kreiert zu Verdis «Don Carlos» starke aktuelle Bilder - auch des Grauens. Er erzählt Spaniens blutige Geschichte.
Der von so manchen erwartete Skandal beim Schweizer Debüt des spanischen Regisseurs Calixto Bieito blieb aus. Er liest in seiner Inszenierung am Theater Basel die französisch gesungene Urfassung von Giuseppe Verdis genialem Spätwerk «Don Carlos» radikal von heute aus. Der Bühnenraum ist der Eingangshalle des Bahnhofs Atocha in Madrid nachgebildet (Bühne: Ariane I. Unfried, Rifail Ajdarpasic). Am Ort des islamistischen Anschlags vom 11. März 2004 spannt Bieito den Bogen vom Spanien der Inquisition über die Zeit Philipps II. bis zum Bombenattentat von Atocha, das den Schluss setzt.
Es gab Buhs, doch die gingen im heftigen Applaus unter. Zu stark ist dieser Opernabend, der die Geschichte der Opfer von weltlicher und kirchlicher Diktatur und von religiösem Fanatismus in surrealistischen, auch Grauen darstellenden Bildern erzählt. Aber Verdis «Don Carlos» ist ein düsteres Werk über Gewalt, Macht, Verrat und Morde im Namen Gottes, ebenso über Revolutionsschwärmerei, die selbst wieder Leid gebiert.
Ein eiskalter Todesengel (Le Comte de Lerme / Un Hérault Royal) lenkt das Geschehen. Er verkörpert das Grauen, das sich in der blutigen spanischen Geschichte manifestiert.
Ein Opfer dieses Systems von Unterdrückung und Gewalt ist Don Carlos, seine Liebe zu Elisabeth, die Bieito aus Carlos’ Sicht als Madonna-Figur zeichnet - Mutter und Geliebte zugleich -, scheitert an der Politik. Sein Vater Philipp II. heiratet Elisabeth. Carlos wird zum verstörten Jungen ohne Identität, ohne Zukunft, weltfremd, am Rande des Wahnsinns, mit selbstzerstörerischer Kraft in sich.
In drastischen Bildern, die an Goya angelehnt sind, zeigt Bieito das Autodafé, in Bildern, die über Spaniens Geschichte hinausweisen, aktuell sind, an Abu Ghraib erinnern. Die mörderische kirchliche Macht dringt ins Volksfest ein, gefolterte Ketzer werden angekarrt. Das Volk schweigt. Dieses Volk im Basler «Don Carlos» ist auch von heute, ohne Perspektive, medialer Verführung zugeneigt, mal aufmüpfig, meist ängstlich.
Das nackte Grauen, die Ausweglosigkeit, das Bieito nach dem Autodafé-Bild radikal steigert, verdichtet hier seine Inszenierung. Philipp vergewaltigt Elisabeth, während er in seiner Arie beklagt, dass sie ihn nicht liebt. Um das Bett herum kauern die nackten Gefolterten, der Todesengel ersticht einen nach dem anderen. Sexuelle Gewalt, Folterung und Hinrichtung gehen auch real zusammen.
In präziser Personenführung lotet Bieito die Figuren bis in ihre abgründigsten Winkel aus, zeichnet Philipps gefährliche Gebrochenheit. Und deutlich wird, wie Opfer zu Monstern werden. Elisabeth schickt Carlos mit dem Bombengürtel in den Freiheitskampf - hoffend auf eine bessere Welt im Jenseits.
Der Basler «Don Carlos» ist ein Kunstwerk, welches das reale Grauen deutlich macht, zugleich nie gegen Verdis Musik gerichtet ist. Das Düstere in Verdis Musik macht auch der ungarische Dirigent Balázs Kocsár mit seiner gut aufgebauten, Spannung erzeugenden Interpretation hörbar. Das Sinfonieorchester Basel zeigt sich gut in Form.
Die Solisten spielen allesamt ergreifend, und die meisten singen gut. Keith Ikaia-Purdy steigert sich enorm, Stefan Kocán ist als stimmgewaltiger Philipp eine Entdeckung. Schön und warm ist Mardi Byers Sopran (Elisabeth), aussdrucksstark der Alt Leandra Overmanns, Marian Pop ein hervorragender Posa. Nur Allen Evans Bass (Grossinquisitor) verschwimmt. Brillant singt der Basler Theaterchor.