Vom Nichtleben in einem Einfamilienhaus

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (18.01.2005)

Ariane et Barbe-Bleue, 16.01.2005, Zürich

Das Opernhaus Zürich zeigt erstmals Paul Dukas' selten gespielte Oper «Ariane et Barbe-Bleue» von 1907: eine schöne Aufführung eines eigenartigen Stücks.

Ungehorsam zu sein, sei die erste Pflicht, singt Ariane gleich zu Beginn, bevor sie sich in Blaubarts Schloss auf den Weg macht, an den sechs erlaubten Türen vorbei die siebte, verbotene zu suchen - und hinter ihr die Freiheit. Der Satz in Maurice Maeterlincks Version der Blaubart-Legende muss Paul Dukas gefallen haben. Als Komponist war auch er auf der Suche nach seinem eigenen Weg, kompromisslos, selbstkritisch, allergisch gegen alles Routinierte. Zahlreiche (vor allem späte) Werke hat er vernichtet, weil sie seinen Ansprüchen nicht genügten.

Maeterlincks Libretto muss Dukas überhaupt gefallen haben, in seinem Ungehorsam gegenüber Konventionen, in seiner Eigenwilligkeit der Proportionen. Barbe-Bleue, immerhin die zweite Titelfigur, hat exakt 21 Takte zu singen, dann tauchen noch kurz drei Bauern auf - sonst ist es eine reine Frauenoper. Mehr noch, eine Ein-Frau-Oper: Ariane (oder Ariadne, die schon in der Antike die scheinbar unumstössliche Regel widerlegte, dass man im Labyrinth des Minotaurus zu sterben habe) ist die ganze Zeit auf der Bühne präsent, singt fast immer, trägt das Geschehen allein, ist Fokus für alle anderen Figuren und gleichzeitig jene, durch deren Augen das Publikum die Geschichte verfolgt. Die anderen Frauen, die sie hinter der siebten Tür findet (Sélysette, Mélisande und weitere, die schon in früheren Maeterlinck-Stücken ihr Schicksal passiv und träumerisch über sich ergehen liessen), sind ihr gegenüber ohne Konturen. Das passt dazu, dass sie schliesslich die Freiheit fürchten und lieber bei Blaubart bleiben.

«Übernatürlich gut und aktiv»

Auch die Aufführung hängt an Ariane, in Zürich an der Mezzosopranistin Yvonne Naef, der die Last der Verantwortung keineswegs anzumerken ist. Leicht, farbenreich und elegant singt sie, unverkrampft bis zu den höchsten Tönen und unangestrengt bis zu den letzten; ihrer Figur können Versuchungen und widrige Umstände nichts anhaben, ihrer Stimme dieses enorme Pensum auch nicht.

Damit verstärkt sie, was Dukas einst in einem Aufsatz jenen entgegnet hat, die seine Oper für ein feministisches Manifest hielten: Nicht die feministische Überzeugung, sondern eine «übernatürlich gute und aktive Natur» bringe Ariane zu ihrem Handeln. Auch Yvonne Naefs Ariane ist keine Frau, sondern eine unmenschlich makellose Heilsbringerin, im zweiten Akt durchaus mit einem Hang zum Sektiererischen. So sehr man sie in ihrem Kampf für die Freiheit versteht, als Figur kommt sie einem kaum nahe.

Das wiederum hat auch mit der Inszenierung von Claus Guth zu tun. Nur einmal, nach dem missglückten ersten Fluchtversuch, lässt er Ariane mit den anderen Frauen in jene stereotype Choreografie der Panik geraten, die den Abend in beklemmender Weise prägt. Sonst erschrickt sie selbst dann nicht, wenn die Musik es bei Blaubarts Auftauchen in aller Heftigkeit tut. Unantastbar, unbeirrbar, in strahlendem Weiss geht sie ihren Weg durch diese Inszenierung.

Fremd wirkt sie in dieser Bühnenwelt, in der einem sonst alles sehr bekannt vorkommt. Blaubarts Schloss, wie es zu Beginn auf einem Gaze-Vorhang erscheint, ist ein Einfamilienhaus, wie es in einem Zürcher Aussenquartier stehen könnte. Barbe-Bleue trägt Anzug und Krawatte, wie so viele, die einem im Laufe eines Tages begegnen. Und wenn seine früheren Frauen anders als in der Vorlage schon im ersten Akt aus den Schatzkammern kommen, die sich hinter den sechs erlaubten Türen befinden, dann wird klar, dass sie hier weniger mit Gewalt festgehalten werden als durch die Verlockungen von Reichtum, Luxus, Status.

Im zweiten Akt sitzen sie dann doch in einem Keller, der sich unter dem hochgefahrenen Bühnenboden öffnet. Guth gibt für eine Weile die psychologische Lesart auf und steigt um auf einen Realismus, den er in dieser märchenhaften Geschichte eigentlich nicht nötig hätte: Was Gefangensein heisst, kann er auch mit wenigen Gesten zeigen, wenn sich eine Frau hektisch am Verband um das Handgelenk kratzt, wenn eine andere an ihren Haaren herumzupft, wenn sie alle mit den gleichen Reflexen auf Gefahr reagieren.

Oder auch, wenn sie am Ende, die Freiheit vor Augen, doch wieder ihre Mäntel abstreifen. Da befinden sie sich längst wieder in jenem von Ausstatter Christian Schmidt entworfenen Raum, der sich so sehr für das Nichtleben eignet. Leer ist er und absolut symmetrisch, mit je drei Türen auf jeder Seite, mit kühlem Oberlicht, schmucklosen Wänden, etwas schäbigem (aber anders als bei Anna Viebrock keineswegs verlebtem) Anstrich.

Straff, aber nicht steif

Es ist ein guter Raum, um diese Geschichte zu erzählen - auch wenn die oft hitzige Musik keinen richtigen Widerhall in ihm findet. Zwar dirigiert John Eliot Gardiner auch seine dritte Zürcher Premiere eher präzis als schwelgerisch, eher transparent als opulent, aber Bühne und Orchestergraben klaffen dennoch streckenweise weit auseinander.

Es ist zu verschmerzen, weil das Niveau sowohl auf der Bühne als auch im Orchester hoch ist. Wie Guth kümmert sich auch Gardiner um die Zwischentöne dieses Werks und entdeckt dabei eine nicht revolutionäre, aber eigenständige Tonsprache. Sie ist dichter, üppiger als jene von Debussys oft zum Vergleich herangezogener Oper «Pelléas et Mélisande»; und ausgreifender, manchmal auch ausufernder als jene in Bartóks «Herzog Blaubarts Burg». Wie einfallsreich Dukas seine einzige Oper orchestriert hat, wird in dieser straffen, aber nie steifen Interpretation deutlich; dass er grosse Effekte zu setzen verstand, ebenfalls: Gardiner, einst vor allem Spezialist für historische Aufführungspraxis, schätzt längst die Möglichkeiten des spätromantischen Orchesters.

Im Verhältnis zum stets hinter der Bühne platzierten Chor der Bauern wird die Musik manchmal sogar zu laut. Die allesamt überzeugenden Protagonisten dagegen erhalten nuancierte Unterstützung: Liliana Nikiteanu, die als klangstark exaltierte Amme in dieser Inszenierung ihre eigene Geschichte erhält; Cheyne Davidson, der einen «normalen» Barbe-Bleue geben kann, weil das Orchester seine verstörende Wirkung vorwegnimmt; und die früheren Frauen Blaubarts (Stefania Kaluza, Martina Janková, Eva Liebau, Liuba Chuchrova, dazu Anikó Donáth in einer stummen Rolle), deren Angst in der Begleitung ebenso aufscheint wie ihre Hoffnung und ihre Resignation.

Bei Ariane dagegen bleibt auch das Orchester unbeirrbar in seinem Schmelz. Bis sie am Ende, hastig begleitet von der Amme, Blaubarts Einfamilienhaus verlässt.